MAULCO.
© Mathias Maul

Stabilität im ständigen Wandel

Die CoV­-Krise stellt als eingespielt geglaubte Teams und Prozesse infrage. Nebenbei sind wir mit vielen kleinen Krisen und Baustellen konfrontiert: professionell, kommunikativ, mental und emotional. In der „neuen Normalität“ benötigen Führungskräfte ebenso neue Konzepte für Produktivität und Motivation.

Erschienen in technische kommunikation 6/2021.

Auf alten Landkarten sieht man oft Flächen mit der Beschriftung „Terra incognita“, unbekanntes Land. Die Kartografen kannten die Umrisse, nicht aber, was sie dort erwartet: Löwen, Drachen, Schätze? Nur die Mutigsten drangen in diese Gebiete vor. Entdeckergeist könnte man es nennen, Neugierde oder, realistischer, blanke Gier. Man wollte der Erste sein, der die Goldadern freilegt, auch wenn es bedeuten konnte, der Erste zu sein, der von den Drachen gefressen wird.

In der Corona-Krise wurden Teile unserer Welt zur Terra incognita. Die Umrisse von Gesundheitswesen, Geopolitik, Privatleben und Wirtschaft sind noch erkennbar, doch die Inhalte müssen neu entdeckt werden, mit allen potenziellen Löwen und Goldadern.

Phasenübergänge

Krisen sind Zeiten des Übergangs zwischen (mehr oder minder) stabilen Konfigurationen. In der ursprünglichen Wortbedeutung steckt die Entscheidung zwischen dem einen, alten und dem anderen, neuen. Das alte Wort Fieberkrise bezeichnet den Zeitraum des Übergangs, in dem sich entscheidet, ob der Patient „über den Berg“ kommt.

Krisen im beruflichen Umfeld stehen den persönlichen wie Pubertät, dem Tod von Angehörigen oder der mythischen „Midlife-Crisis“ in nichts nach. Konkurrenten klauen Marktanteile, Führungskräfte werden ausgetauscht, neue Normen greifen tief in Arbeitsabläufe ein, oder: Plötzlich arbeitet das ganze Team zu Hause, und aus dem Treffpunkt in der Kaffeeküche wird der Slack-Kanal #coffeemaker.

Manchmal werden Krisen auch zu festen Institutionen, zum dauernden Übergang: Unternehmen starten Reorganisationsprozesse, bei denen Abteilung A mit ihrem „Change“-Prozess noch nicht fertig ist, während B schon beginnt, an C zu wackeln, was wiederum A beeinflusst.

So verschieden all diese Krisen auch sind, sie haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Während man drin ist, fühlt es sich beschissen an, denn einige der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse sind nicht erfüllt.

  • Orientierung: Wie soll ich mein Team führen, wenn ich selbst nicht weiß, wo vorn und hinten ist? Wie entwickelt sich der Markt weiter, wie die ganze Welt? Was kann ich als Einzelner überhaupt bewirken?
  • Vertrauen: Wie halte ich den Kontakt mit meinen Mitarbeitern aufrecht? Wie halten wir zusammen? Kann ich ihnen vertrauen, dass sie ihren Job gut machen, obwohl wir alle im selben Krisen-Boot sitzen?
  • Hoffnung: Wie sieht unsere Zukunft aus, und wann ist sie endlich da? Wird sie besser sein als die Gegenwart? Werde ich als Führungskraft wegrationalisiert? Wird das Unternehmen überleben?

Nach dem Versetzen ins Homeoffice schwärmte mir eine Redakteurin vor, dass sie sich zu Hause deutlich besser konzentrieren kann und ihr Computer viel besser sei als alle, die sie bei Arbeitgebern je hatte. Ein Teamleiter bedauerte, dass er durch die Verlagerung ins Homeoffice nun immer mit dem Hund rausgehen muss. Ein weiterer war verzweifelt, weil er nicht mehr zwischen den Schreibtischen hindurchgehen und „Schwätzchen halten“ kann, die die erstgenannte Redakteurin übrigens verabscheute.

In einem Online-Workshop einer tekom-Regionalgruppe sammelten wir grüne und rote Kärtchen für die positiven bzw. negativen Auswirkungen. Sowohl „Ich kann ohne Ablenkung arbeiten“ und „Ich gehe häufiger mit dem Hund spazieren“ klebte jeweils einmal in Rot und Grün am virtuellen Whiteboard.

Die Reaktionen auf die Auswirkungen dieser Krise sind offenbar sehr persönlich, und unser mental-emotionaler Zustand hat einen entscheidenden Einfluss auf unsere Produktivität und Motivation.

Von den vielen Auswirkungen der pandemischen Krise dient der Wechsel zum Homeoffice in diesem Beitrag als Beispiel. Nicht, weil es die bedeutendste Konsequenz ist, sondern weil es die ist, mit der die Leser wohl die meisten – und ganz individuellen – Erfahrungen gemacht haben.

Motivation

Hunderte Studien und Artikel der letzten Monate zeigten ganz eindeutig, dass Produktivität und Motivation im Homeoffice (a) massiv gestiegen, (b) enorm gefallen oder (c) unverändert geblieben sind. Je nach Blickwinkel, Wahl der Stichprobe und Agenda der Autoren lässt sich all dies belegen. Anders als in der Epidemiologie gibt es keine objektiven Methoden, Menschen zu messen, geschweige denn ihren „Output“ in Relation zum Kontext, in dem sie leben und arbeiten.

Außerdem hilft eine Studie mit einer Stichprobengröße n=500 nicht viel, wenn das Redaktionsteam aus vier Personen mit grundverschiedenen Lebensstilen besteht. Sobald wir einzelne Menschen betrachten, bringen uns allgemeine Ergebnisse nicht viel weiter.

Dabei ist gerade das Individuelle essenziell. In Übergangssituationen, in denen es an Orientierung, Vertrauen und Hoffnung mangelt, werden Menschen an ihren Grundfesten erschüttert. Zusätzlich zum allgemeinen Gewusel, in dem die Welt sich befindet, ist jeder in seinem ganz eigenen, ganz privaten Nebel unterwegs. Jeder einzelne wird aus seiner persönlichen Konfiguration aufgeschreckt und muss sich in einer neuen einfinden.

Führungskräfte können ihre Mitarbeiter mit Arbeit in den Bereichen Orientierung, Vertrauen und Hoffnung unterstützen. Ich meine hier mit „Führungskraft“ sowohl Manager von Personen (zum Beispiel Teamleiter oder Geschäftsführer) als auch alle anderen. Wir alle sind Manager unserer eigenen Persönlichkeit, die man sich oft recht hilfreich als Sammlung von Unterpersönlichkeiten vorstellen kann. Manchmal verfolgen sie verschiedene Agenden, haben am Ende aber immer das Wohl der Gesamtpersönlichkeit als Ziel.

Orientierung

Die Orientierungsreaktion ist uns tief ins Hirn geschrieben. Wie Kletterpflanzen, die sich beim Wachsen mit ihren Ranken festhalten, entwickeln wir unser Verhalten und Charakter: Ausstrecken, herantasten und, wenn es sich besser anfühlt als vorher, festhalten und weiter wachsen.

Das jedoch funktioniert nur mit klaren Rückmeldungen: Die Ranken brauchen andere Pflanzen oder die Hauswand zum Halt und die Sonne als Richtungsweiser; wir brauchen zur Orientierung das Feedback anderer Menschen. Gibt es keines, folgt Orientierungslosigkeit und daraus Konfusion, Hilflosigkeit, Ohnmacht. Ranken verausgaben sich im leeren Raum, Menschen und Teams verlieren Motivation und Produktivität.

Schon kleinste Störungen können an der Orientierung rütteln. In der Videokonferenz genügt eine Zehntelsekunde Verzögerung zwischen Bild und Ton, um unsere lebenslang trainierten Mechanismen zu verstören, mit denen wir andere Menschen „lesen,“ um in kommunikativer Verbindung zu bleiben. Um sich daran zu gewöhnen, müssen wir unseren Gehirnen die Rüstzeit zugestehen, die sie brauchen, um die Ranken greifen zu lassen. Wer erwartet, dass Mitarbeiter reibungslos aus der Kaffeeküche in den SlackChannel #coffeemaker wechseln können, ignoriert das Menschliche.

Orientierung an andere zu vermitteln, heißt zunächst, selbst orientiert zu werden. Dazu wiederum ist es hilfreich, an der eigenen Haltung zu arbeiten. Und die Haltung entsteht und wächst – nur – aus der Tat: aus dem Tun und der Reflexion.

„Erkläre dir zunächst, welche Person du sein willst; dann tue, was du zu tun hast.“ (Epiktet, Unterredungen)

Wenn Führungskräfte Orientierung von oben einfordern, ist mitunter eine Übersetzung ins Realmenschliche nötig. Vage Ansagen wie „Halten Sie Störfaktoren aus der Produktion raus!“ (so die Ansage der Geschäftsführung an einen Technischen Redakteur) müssen in umsetzbare Orientierungs-Statements gefasst werden, um Halt zu geben.

Diese beiden Aspekte zusammengenommen helfen, Orientierung zu verfestigen. Zusätzlich ist es hilfreich, wenn wir – gerade als Führungskräfte – unsere Orientierungslosigkeit eingestehen. Nicht, um im Rudel zu jammern, sondern um einen gemeinsamen Ausgangspunkt zu würdigen und danach Messpunkte zu definieren, an denen wir erkennen, ob wir auf dem richtigen Weg sind.

Vertrauen

„Ich habe meine Leute gefragt, was sie brauchen. Ich habe sie wünschen lassen“, so Markus Oltmanns, Leiter Technische Dokumentation bei Stiebel Eltron. Schon nach diesem Satz hätten wir das Interview beenden können. Dieser Beitrag würde dann so lauten: Frage deine Leute, was sie brauchen, und hilf ihnen, es zu bekommen. Text abgeben, veröffentlichen, fertig. Wäre es aber so leicht, bräuchten wir das Thema hier nicht zu verhandeln. Wieso fällt es manchen Managern so schwer, Bedürfnisse zu erfragen und darauf zu reagieren?

Einer der Gründe ist ein unterschiedliches Rollenverständnis. „Mein Chef kann nur, wenn er Offizier auf der Brücke ist“, so eine (hier anonyme) Interviewpartnerin aus der Technischen Redaktion. „Für den ist schon Anwesenheit eine Leistung. Und dauernd kontrolliert er unsere Arbeit.“

Den Gegensatz beschreibt Markus Oltmanns:

„Ich vertraue dem Team, dass sie ihre Ergebnisse bringen, ohne dass ich ihnen auf dem Schoß sitze. Und sie vertrauen, dass ich das mache, was ein Manager zu tun hat: ihnen den Rücken freihalten und dafür sorgen, dass ihre Arbeit so angenehm wie möglich ist.“

Kontrollfreaks auf der einen Seite, Altruisten auf der anderen? Das Bild ist viel differenzierter. Nach Gesprächen mit (hier nicht genannten) Führungskräften ist einer der Gründe für das Kontrollfreak-Mindset Unsicherheit und Mangel an Orientierung: Viele Unternehmen entledigen sich ganzer Führungsebenen. Wer braucht noch die Trillerpfeife auf der Brücke, wenn verteilte Teams sich nun immer mehr selbst organisieren? Außerdem besteht oft Furcht, Schwäche zu signalisieren, wenn man persönliche Bedürfnisse anspricht, denn noch immer interpretieren viele genau die Verletzlichkeit, die sie erst menschlich macht, als beschämende Charakterschwäche.

Eine durchaus reale Furcht ist diese: Wer ehrlich nach Bedürfnissen fragt, muss die Antworten aushalten können. Und dazu gehört auch, Kritik hören zu können und Wünsche, die nicht leicht erfüllt werden können.

Eine Bereichsleiterin erzählte mir von ihrem lang gedienten Mitarbeiter, der trotz Homeoffice-Verordnung unbedingt ins Büro kommen wollte. Doch auch im Corona-tauglichen Einzelbüro schien er unglücklich. Sie haderte lange mit sich, ihn anzusprechen: „Ich wollte nicht zu persönlich werden. Man weiß ja nicht, was wirklich los ist. Vielleicht ist es ihm peinlich.“

Schließlich fasste sie sich ein Herz und fragte ihn, wie sie ihn unterstützen könne. Das Gespräch verlief zu Beginn zäh, doch sie war sich ihrer Rolle als Rückenfreihalterin sicher genug, um ihm aufrichtig zuzuhören und vorsichtig die Bedürfnisse zu erkunden. Schließlich stellte sich heraus, dass der Mitarbeiter viel lieber zu Hause arbeiten wollte. Jedoch besaß er nur seinen Couchtisch und wollte nicht den ganzen Tag vornüber gekrümmt am Notebook sitzen.

Danach verließen sie gemeinsam das Büro – mit einem der vielen nun ungenutzten Schreibtische im Firmen-Transporter. Beide waren glücklich: Die Managerin, weil sie verstanden hatte, dass die Lösung hochindividuell und gleichzeitig einfach sein konnte, und der Mitarbeiter, dass er sich trotz seiner Scham äußern und eine Lösung herbeiführen konnte.

Nun könnte man fragen: „Wieso hat er denn nicht einfach einen Tisch gekauft? Warum hat er das nicht gleich gesagt? Was ist denn sein Problem?!“ Und genau hier liegt das eigentliche Problem.

Kein Manager soll zum Therapeuten werden oder „nebenbei“ die tiefen Gründe der unerfüllten Bedürfnisse seiner Mitarbeiter erkunden. Vor allem in Zeiten der Orientierungslosigkeit ist es aber unbedingt nötig, Bedürfnisse zu erfragen und sie dann auf dem kürzest möglichen Weg zu erfüllen.

Dazu ist es zunächst hilfreich, die eigenen Bedürfnisse zu kennen oder kennenzulernen. Und die sind bei den „Kontrollfreaks“ wie auch den „Rückenfreihaltern“ erstaunlich ähnlich.

Eine der hilfreichsten Kommunikationsmethoden, die Führungskräfte (und Mitarbeiter) lernen können, ist das empathische Zuhören. Entwickelt von Carl Rogers in den 60ern, geht es weit über das „aktive Zuhören“ hinaus, indem es die emotionalen Anteile fokussiert und zurückmeldet. Diese sind der Kern der Kommunikation: Ohne Emotion keine Menschlichkeit, und ohne Menschlichkeit keine echte, intrinsische Motivation.

Hoffnung

Genau wie die innere Haltung kann die Hoffnung nicht ohne Taten wachsen. Jeder kann in der Hängematte liegen und hoffen, dass die Zeiten besser werden. Wer aber aktiv ist, um die neue, post-kritische Konfiguration zu erreichen, verstärkt sein Gefühl von Hoffnung. Freunde, Familienmitglieder und Mitarbeiter bemerken das. Sie machen mit, sie hoffen mit.

Gleichzeitig orientiert Hoffnung unsere Taten. Wer sich sicher darin fühlt, dass die Zeiten besser werden, kann Aktionen gezielter ausrichten als die Hoffnungslosen. Die Krux dabei: Das einzige, über das wir – solange wir gesund sind – die volle Kontrolle haben, sind unsere eigenen Gedanken. Alles, und auch wirklich alles andere entzieht sich der direkten Kontrolle.

In Coachings sehe ich immer wieder, wie hart diese Einsicht nicht nur für die oben erwähnten Menschen vom Stereotyp „Kontrollfreak“ ist. Sie ist jedoch ungemein wichtig, um hoffen zu können. Hoffnung kann nur entstehen, wenn wir uns mächtig fühlen, etwas zu bewirken und verändern. Wenn das einzig Kontrollierbare in uns selbst liegt, müssen und können wir nur – und das ist die oft noch härtere Einsicht – bei uns selbst beginnen.

Um nochmals die Stoiker zu bemühen: Finde klar heraus, was du ändern kannst und was nicht, und mühe dich nicht mit Unkontrollierbarem ab. Die oft geforderte Vorbildfunktion von Führungskräften bedeutet im Grunde nichts weiter, als den ersten Schritt immer selbst zu gehen. Zum einen gibt es gar keine andere Möglichkeit (da sich alles außerhalb unseres Selbst unserer Kontrolle entzieht), zum anderen ist es eine effiziente und effektive Art, nahestehende Menschen – Mitarbeiter wie Freunde und Familienmitglieder – positiv zu beeinflussen. „Be the change you want to see in the world“ ist nichts anderes als: Mach den ersten Schritt allein, mit dir selbst, denn du hast sowieso keine andere Wahl.

Stabilität

Nur Entdecker zu sein genügt nicht, um die vielen neuen weißen Flecken der Landkarte mit Orientierung, Vertrauen und Hoffnung zu füllen. Führen und Machen ist unabdinglich; ganz gleich, ob es um Teams bestehend aus Menschen geht oder die Teams in unseren eigenen Köpfen.

Einige Kommentatoren schreiben, die Corona-Krise sei ein Katalysator für Veränderungen, die sowieso schon lange anstehen. In der Arbeit mit Führungskräften beobachte ich, dass sie viel mehr ist. Bei allem Schmerz bringt sie uns als eine der aktuell weltweiten Großkrisen Möglichkeiten, die wir so nie zuvor hatten: Wir müssen experimentieren und vorfühlen, wie es ist, mehr auf das Menschliche zu fokussieren, die Bedürfnisse aller nicht nur „im Blick zu haben,“ sondern sie aktiv zu erfragen, zu würdigen und zu handeln, um sie zu erfüllen.

Und das wiederum fällt uns umso leichter, wenn wir in Krisen vor allem den Aspekt des – wie auch in anderen Lebensbereichen unvermeidlichen – Übergangs sehen: Raus aus der einen, alten Konfiguration und rein in die andere, neue. Stabilität entsteht dabei nicht aus der Unveränderlichkeit, sondern aus der Art, wie gefestigt und hoffnungsvoll wir Übergänge meistern. Und wie bei Loriot ein Leben ohne Mops zwar möglich, aber sinnlos ist, ist ein Übergang ohne Terra incognita sowieso keine Veränderung, die sich lohnt.