MAULCO.
Smithsonian Institution PD

Selbstoptimierung: Vom Wahn zum Sinn

Erschienen in Business Punk 5/2018.

Meta-Warnung vorweg: Dies ist ein Artikel über die Optimierung der Selbstoptimierung. Ihn ernst zu nehmen funktioniert nur mit einer großen Dosis Selbstreflexion, oder Korn, oder beidem.

Neulich wollte mir ein Heft im Bahnhofskiosk erklären, wie ich „enkelgerecht leben“ kann. Ein Programm zum Schreiben von Textnotizen bot mir “instant access to a minimal world where you can better isolate your thoughts and focus on your words.” Und mindestens einmal im Monat will mir jemand beibringen, „nein“ sei ein vollständiger Satz, und man solle ihn doch öfter mal äußern, außer natürlich wenn man damit sein Angebot kommentiere. Ausmalbücher für Erwachsene wollen mir helfen, mehr Zen zu spüren, und tatsächlich, so lerne ich, finde ich meine T-Shirts schneller, wenn ich sie gerollt in den Schrank lege. Ein Skifahrer grinst mich lasziv von der Matratze an, die mir „die bestmögliche Erholung“ gibt, und jede City-Buchhandlung hat diesen einen Tisch, eine Karikatur seiner selbst, überlaufend mit Büchern über Achtsamkeit und Minimalismus.

Die Selbstoptimierungsindustrie (zu der, full disclosure, auch ich als Ex-Therapeut gehöre) lungert an allen Ecken wie eine Armee aus Sesamstraßen-Schlemihls und flüstern oder, meistens, schreien: Heeee … duuu … willste besser werden? Und was man nicht alles werden kann. Produktiver. Lebenslustiger. Man kann besser kommunizieren. Und entspannter, gesünder, low-carbiger. Ein noch perfekterer Vater, eine liebevollere Freundin.

All das ist, im Prinzip, gut. Also sollte man, dass nach Jahrzehnten (oder, je nach Maßstab und Kulturkreis, Jahrhunderten) der Selbstverbesserungskultur die Straßen voll seien von glücklichen, entspannten, sortierten, freundlichen Leuten.

Tatsächlich aber grummelt’s und meckert’s aus allen Ecken, als würden die Mach-Dich-Besser!-Botschaften an uns abperlen wie Kondenswasser vom Hipster-Cold-Brew. Woher die Diskrepanz zwischen Versprechungen und Realität? Sicher können wir uns über vieles beschweren, nicht aber über zu wenig Leidensdruck. Die Optimierer sehen das Leid, und so sprießen – oft in gutem Wissen und Gewissen – hundert Bücher über Produktivität, samt Spezialkalender und auch-mal-Nein-sagen-Kaffeetasse aus dem Boden …

… die dann nach ein paar Wochen zu ihren Kumpels in den Schrank in der Teeküche wandert. Hinten links, direkt neben die Schrittzähler und Diätshakeshaker.

Wie man besser besser wird

OK, Herr Maul, wir sind nicht zum Jammern hier. Wie geht’s besser? fragen meine Klienten, wenn ich das alles erzähle, und Sie als Leser jetzt vermutlich auch. Sie vermuten, dass die Selbstoptimierung deshalb nicht klappt, weil man einfach nicht alles optimieren kann. Oder dass „man“ einfach noch nicht „bereit“ ist. Oder noch ein anderes Buch von einem anderen Autor kaufen muss.

Das alles ist (bitte Vorwarnung vom Beginn des Artikels beachten) nicht so. Der eigentliche Trugschluss ist, dass es so etwas wie ein Ziel gibt; einen Zustand, in den man sich selbst versetzen oder hineinarbeiten oder gar -wünschen kann, und dann, ja dann ist alles gut.

Und genau das ist die Crux. Es gibt nicht den optimalen Zustand. Es gibt noch nicht einmal eine Menge von optimalen Zuständen. Was es gibt, das sind Prozesse oder Phasen, die sich zwischendurch optimal anfühlen. Das Eichhörnchen klettert den (bitte mit Eichhörnchenstimme lesen) allerallerhöchsten Baum hoch, um die allerallerbesten Nüsse zu pflücken, und oben angekommen sieht es … oh neiin! noch größere Bäume! Das lokale Optimum fühlt sich so lange wie ein Maximum an, bis wir sehen, was noch alles gehen könnte. Und die Selbstoptimierungsheftchen führen uns – gute Absicht hin oder her – vom einen Baum zum anderen, immer auf der Suche nach dem besten.

Das, was zur guten Optimierung des Selbst beiträgt, ist minichten, den richtigen Baum zu finden. Es ist das Weitergehen, das Dranbleiben, das Rauf- und Runterklettern. Oben hocken ist leicht. Eine ganze Woche lang lowcarb, pescetarisch, zuckerfrei ernährt? Prima! Oder: Drei Monate lang jeden Tag im Fitnessstudio gewesen? Supidupi! Und, äh, dann? Ist ja doch ziemlich anstrengend, ne? Hmmmgrübel. Mein Meditationslehrer sagte uns: Wenn Du nur einen Tag die Meditationspraxis unterbrichst, fängst Du wieder ganz von vorn an, und jedesmal ist es so schwer wie beim ersten Mal. Leider hat er Recht. Die eigentliche Aufgabe ist nicht das Dranbleiben. Es ist das Neuanfangen.

Und dann stellt sich die Frage nach dem Sinn. Wieso das alles, und wie lange noch? Ein Leben lang? Nur um besser zu werden, nur um endlich auch mal glücklich zu sein, so wie alle anderen mit ihren endgeilen Insta-Shoots? Sloterdijk schrieb in seinem schwer verdaulichen Du musst Dein Leben ändern! über die Bedeutung der Lebenspraxis, der Disziplin. Die leichter verdauliche Grund-Botschaft macht Angst und wird gern ignoriert: ändere es nicht einmal, sondern immer. Jeden. Einzelnen. Fucking. Tag.

Und das ist nicht beileibe nicht leicht. Sich zu verändern ist Arbeit, Disziplin, Machen. Denken, Wünschen und hoffen ist schön und lieb. So wie die Zopfpullihände, die auf den Zeitschriftencovern die dampfende Kaffeetasse unschließen. Aber, leider leider, es hilft nicht.

Monkey Legs, Monkey Mind

Nochmal aus einer anderen Perspektive: Der Job deiner Beine ist Laufen. Der Job deines Geistes ist Denken. Denken ist leichter als laufen, deshalb denken viele Leute dauernd in der Gegend rum. Sie denken, wünschen, wollen, und fallen dann auf den hundersten Heilbringer herein, der ihnen die Lösung für Ihr Leid in Three Easy Steps! verspricht. Immer neue Kühe werden durchs Dorf getrieben, die Wurst bleibt die gleiche.

Auch nach „nur mal ein paar Tagen“ Fitnessstudiopause bilden sich die Muskeln wieder zurück, weil who the fuck cares? Wer braucht uns schon? sagen sie, leeren ihre Energie in Richtung Gürtellinie und verschwinden. In unserem Innersten ist das nicht viel anders. Unsere Gewohnheiten, mentalen und emotionalen Prozesse, die wir uns so hart aufgebaut haben, verkümmern schon am ersten Tag, an dem wir sie nicht mehr nutzen.

Kontrolle an der Identitätsgrenze

Und am Ende geht’s oft nur um eins: Kontrolle. Ich will glücklich werden! Ich will reich sein! Ich will ich will ich will diesen oder jenen Zustand leben! Das Unkontrollierbare kontrollieren zu wollen scheitert jedoch schon am Chef, der sich partout nicht so verhalten will, wie es eigentlich besser wäre. Irgendwann geben wir auf und sagen, „ach naja so isser halt“ und schenken ihm auf der Weihnachtsfeier nochmal Glühwein nach. Noch größer scheitert das Kontrollierenwollen am Leben, das sich genau dadurch auszeichnet, nicht kontrollierbar zu sein. Mein Biolehrer sagte mal, es gäbe ein Wort für ein organisches System, das sich nicht mehr bewegt: Tod.

Zweitens: Sich selbst optimieren heißt vor allem, sein Selbst zu optimieren. Versuchen, krampfhaft womöglich, zu einem neuen Selbst zu werden, kann kaum mehr sein als ein netter Versuch. It’s all about comparing one’s insides to other people’s outsides. (Anne Lamott, Bird by Bird)

Und sind die Eigenheiten unserer Selbste nicht das, was uns ausmacht? Ein lieber Kollege von mir ernährt sich – Ehrenwort – seit Jahrzehnten ausschließlich von Chips, Erdnüssen, Gummibärchen, Schokolade und Kaffee. Und ist dabei gesund, fit und erstaunlich sozial verträglich. Ich komme fast immer eine Viertelstunde zu früh zu Verabredungen. Selbst die U-Bahn, die mich exakt pünktlich anliefern soll, fährt gefühlt viel zu schnell und torpediert mein neues Selbst, das doch so gern auf die Minute genau aufschlagen will oder, wie die Anderen! die Coolen! die Verwegenen! auch mal 5 Minuten zu spät.

Optimieren innerhalb der Identitätsgrenze ist nicht nur leichter, als sich eine neue Identität zu basteln. Es ist tatsächlich das einzig Mögliche, wenn man nur ein einziges Leben zur Verfügung hat.

Ein kluger Abschluss

Mein Redakteur schlug mir vor, den Artikel mit einer „klugen Aufbereitung von wirklich nützlichen Tips“ zu beschließen. Mit Erinnerung an die einleitende Warnung hier meine aktuellen Top Two der Selbstoptimierungsslogans:

  1. Auf den Fels in der Brandung kacken die Möwen.
  2. Sei ein Eichhörnchen.

Der Fels (auch als Büroparole in Business Punk 2/2015 zu finden) erinnert an die Unsinnigkeit, felsenfest werden zu wollen, einen Zustand erreichen zu wollen. Wer fest steht, ist allem ausgeliefert.

Und das Eichhörnchen, nu ja. Baum rauf, Baum runter, Nüsschen sammeln, neuen Baum suchen, rumhüpfen. Wenn man in diesem Fluss mal drin ist, kann sich das alles tatsächlich ziemlich gut anfühlen, so irgendwie … ach, wie war das Wort noch gleich … lebendig.