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Mit der Leine im Maul: Selbstführung in 3(00) Schritten

Wie führe ich mich selbst? Und … woher nehme ich die Orientierung, die Disziplin, den Sinn? Woher weiß ich, was richtig ist und falsch, oder sinnvoller gefragt: Was nützlich ist und was nicht? In der Beratung höre ich diese Fragen schon immer von Selbständigen, und nun immer häufiger von Angestellten und deren Managern. In diesem Artikel schaue ich aus verschiedenen Blickwinkeln auf mögliche Antworten.

Erschienen in technische kommunikation 2023-03.

Selbstführung ist wieder in, spätestens seitdem – so hört man – die Welt VUKA geworden ist: volatil, unsicher, komplex, ambig. Sicher, völlig vorhersehbar war das Leben noch nie, aber rückblickend fühlte es sich sortierter an. Schon immer half die Verklärung der Vergangenheit, das Jetzt einzuordnen.

Beim Menschen ist VUKA die Standardeinstellung. Und solange die Künstliche Intelligenz die Welt noch nicht übernommen hat, hängt der Erfolg jedes Unternehmens von den Menschen ab: davon, wie sie arbeiten und wie sie miteinander arbeiten. Und natürlich davon, wie sie mit sich selbst arbeiten, im eigenen Kopf.

Aber: Wie geht das? Wie führe ich mich selbst? Und … woher nehme ich die Orientierung, die Disziplin, den Sinn? Woher weiß ich, was richtig ist und falsch, oder sinnvoller gefragt: Was nützlich ist und was nicht? In der Beratung höre ich diese Fragen schon immer von Selbständigen, und nun immer häufiger von Angestellten und deren Managern. In diesem Artikel schaue ich aus verschiedenen Blickwinkeln auf mögliche Antworten.

I. Die neue Stille

Wir leben in Systemen, in denen wir uns gegenseitig beeinflussen, mal mehr und mal weniger bewusst und zielgerichtet. Unsere Chefs, Kollegen, Partner, Eltern, Kinder, Freunde spannen ein Netz aus Verbindungen, oft verborgen und über Jahre eingeschliffen, und wir selbst finden uns mittendrin, mit unseren Gedanken, Bedürfnissen, Wünschen. Und immer im Abgleich mit dem Rest, ob wir das nun wollen oder nicht.

In der Arbeitswelt sind diese Beeinflussungen beabsichtigt, Anweisungen sind zu befolgen, Berichtsketten einzuhalten. Man führt und lässt sich führen, vertragstreu und durchaus freiwillig, denn es hat sich gezeigt: So klappt’s ganz gut. Selbst hoch partizipative Managementmodelle wie die Soziokratie oder Methoden wie Scrum betonen klare Strukturen, klare Führung, auch wenn sie nicht klassisch hierarchisch ist.

Diese Systeme wurden in den vergangenen Jahren in Folge etwa durch Digitalisierung und Pandemie gründlich durchgerüttelt. Wir leben in einer „neuen Arbeitswelt.“ Dafür gibt es verschiedene Definitionen und darunter einen weitreichenden Konsens: Die explizite Führung weicht der Selbstorganisation von Teams, und damit wird der einzelne immer mehr zum Manager seiner selbst.

Das eigentlich Neue in dieser New Work ist jedoch nicht, dass wir uns mehr selbst managen sollen oder müssen. Das Neue ist, dass wir nach den jüngsten systemischen Irritationen die eigene Stimme deutlicher hören, zum Beispiel in der neu gefundenen (relativen) Stille des Homeoffice oder der plötzlichen Abwesenheit ganzer Managementebenen.

Schon immer waren wir unsere eigenen Manager, nur ließen wir uns übertönen. Produktives Selbstmanagement bedeutet nicht, eine neue Fähigkeit zu erlernen, sondern das zu reaktivieren und verstärken, was wir schon immer konnten. Denn bei jeder Arbeitsanweisung, jedem Konflikt mit Kollegen und jedem Karrierewechsel fragen wir uns schon immer, inwieweit die Führung von außen mit unserer inneren Führung, unseren Werten, Bedürfnissen und Zielen, kongruent ist.

Und nochmal, weil es so wichtig ist: Wir lernten, uns systemkonform führen zu lassen nicht etwa, um unsere Eigenständigkeit zu verlieren, sondern weil es mit geringem Aufwand gute Ergebnisse brachte. Externe Führung ist nicht per se schlecht, solange sie das Wohl aller im Blick hat.

Nach der Irritation der alten Systeme hatten unsere inneren keine andere Chance, als sich grundlegend neu auszurichten: Das Aufrechterhalten des Alten wäre deutlich anstrengender gewesen, und lebende Organismen streben, ja sehnen sich nach Ökonomie. Nun können unsere inneren und bislang übertönten Stimmen bleiben und blühen. Möchte ich das wirklich? Ist das gut für mich? Geht’s auch besser? Und wie?

Der erste Schritt, um die innere Führung zu stärken, ist demnach: Nach innen hören. Die eigenen Bedürfnisse, Ziele, Werte genauer wahrnehmen, vor allem dann, wenn sie sich bisher vor den von außen vorgegebenen geduckt hatten.

II. Sicherheit durch Flexibilität

Einige traditionelle Management-Stile zielen auf Starrheit ab, auf Vorhersehbarkeit, auf Vermeidung von VUKA, und arbeiten damit – beabsichtigt oder nicht – gegen das Menschliche. Neuere Ansätze zielen auf psychologische Sicherheit und schaffen Umgebungen, in denen Menschen freiwillig und gerne Leistung bringen. Dazu werden gern Berater eingekauft, und wenn ich einer dieser Berater bin, finde ich es immer ein wenig absurd. Es ist, als würde ich den Fischen das Wasser erklären; den Menschen das, was eigentlich ihre normale Umgebung sein sollte.

Sicherheit entsteht für uns, indem wir uns unserer VUKA-Standardeinstellung zuwenden statt ihr entgehen zu wollen. So schaffen wir die Grundlage für flexibles Handeln, mir dem wir wir neue, unerwartete Situationen meistern können. Je weniger vorhersehbar die Welt wird, und sei es nur unsere unmittelbare Arbeitswelt, umso wichtiger wird es, unsere eigene Flexibilität zu stärken.

Diejenigen, die beim Wechsel ins Homeoffice aufblühten, waren genau die, die sich diese psychologische Sicherheit selbst schaffen konnten. Oder genauer gesagt: Die, die sie wieder finden konnten, nachdem sie im All-Tag des Büros vernebelt worden war. Sie lernten wieder, zunächst auf sich selbst zu hören. So fanden sie die Lust an der Arbeit und daran, durch eigenen Einsatz zum Erfolg aller beizutragen, oder fanden heraus, dass sie bei einer anderen Arbeit besser aufgehoben sind. Sie schafften sich selbst mehr Flexibilität, machten die Volatilität zum Auslöser ihrer Entwicklung, zur Chance statt Bremse. Das ist der zweite Aspekt, der zu einer produktiven inneren Führung beiträgt.

III. Orientierung kommt von innen

Orientierung ist ein Grundbedürfnis, das Wort bringt die Metapher gleich mit: Orient, der Ort der aufgehenden Sonne, die Richtung, in der das Leben ist. Natürlich geht man gern dorthin, richtet seine Aktionen so aus, dass jeder Schritt in diese Richtung führt. Zwischendurch nach links oder rechts ausscheren macht nichts, weder individuell noch im Team, solange die Richtung stimmt, „tue mehr mit ungefähr“ als Maxime der Produktivität.

Eine der wichtigen Management-Aufgaben ist, diese Orientierung zu vermitteln. Sie ist jedoch oft gekoppelt an KPI-basierte Zielvorgaben oder vage Mission-Statements. Die Übersetzung in die konkrete Aktion und – wichtiger – der Abgleich mit der jeweils hoch individuellen inneren Orientierung, bleibt den Mitarbeitern überlassen.

Das funktioniert, wenn das Management sauber und konsistent misst und bei Bedarf den Kurs anpasst. Das nennt man Disziplin: Struktur überlagert mit dem Tun, der Übung, und je mehr man übt, umso leichter wird es, gemeinsam in Richtung Orient zu gehen.

Fällt die Orientierung von außen weg, kommt naturgemäß Konfusion. Wohl dem, der sein inneres VUKA pflegt und seinen inneren Kompass kennt. Und die anderen? Ein Hund lernt, an der Leine zu laufen, immer nah beim Halter, nicht trödeln oder zerren, und auf Pfiff bei Fuß. Leine und Pfiff vermitteln Struktur, und aus dem wiederholten Tun entsteht eine innere Haltung. Der Hund wird zum Anderleinelaufer, und die Leine spürt er erst wieder, konfus, wenn sie verschwindet.

Die gute Nachricht: Strukturell unterscheidet sich die innere Orientierung nicht von der äußeren, also der vom Chef oder den Kollegen in der Kaffeeküche vermittelten. Erinnern Sie sich, wir müssen die innere Orientierung kennen, um sie mit der äußeren abgleichen zu können.

Der Hund, der alleine Gassi geht, mit der eigenen Leine im Maul, ist demnach strukturell genauso orientiert wie der, der seine innere Haltung vom Halter übernimmt. Der Unterschied ist eine Frage des Inhalts und der Priorisierung. So reduziert sich die abstrakte Frage, wie wir uns selbst führen können, auf die konkrete, welchen Inhalt wir unserer inneren Orientierung geben.

Hier könnte ich die übliche Nebelkerze zünden: „Lebe deinen Sinn!“, doch das brächte nicht weiter. Denn wer diese Frage zu beantworten sucht, stellt sich automatisch der Aufgabe, sich selbst zu erkennen. Bisher traf ich nur zwei Leute, die sich selbst erkannt hatten. Sicher eine kleine Stichprobe, doch zogen alle dasselbe Fazit: „Ich weiß nichts,“ erklärten sie mir, „und dessen bin ich mir sicher.“ Und das bringt die nächste gute Nachricht: Um sich selbst zu führen, ist es gar nicht nötig, sich selbst zu verstehen, und ich behaupte: Es grenzt an Hybris zu glauben, es sei überhaupt möglich. Es genügt, die eigene Orientierung situativ passend zu gestalten.

Ein dritter Aspekt für gelingende Selbstführung ist somit: Beim Wechsel von der Fremd- in die Selbstführung ist die kleinstmögliche Stellschraube die Quelle und Inhalt der Orientierung. Es gilt, die innere Orientierung zu priorisieren und dann mit eigenen Inhalten zu füllen.

Falls Sie bis hier an meiner Seite gegangen sind, muss ich Sie ab jetzt alleine weitergehen lassen. Es gibt kein Standardrezept, um die Orientierung festzulegen, jedoch ein hilfreiches Prinzip: Die menschliche Flexibilität, unser eingebautes VUKA, schließt auch die Orientierung mit ein. Vielleicht ist es hilfreich, wenn ich als Beispiel mein (zur Drucklegung dieses Artikels aktuelles) Rezept mitteile: Erstens nehme ich mich nicht ernster als unbedingt nötig und zweitens, tue ich das, was primär mich und in Folge meine Mitmenschen sinnvoll wachsen lässt. (Um Missverständnisse zu vermeiden, es ist altruistischer Egoismus, ganz wie im Flugzeug: Setze zunächst dir die Sauerstoffmaske auf, damit du befähigt bist, anderen zu helfen.) Vielleicht kennen Sie ja die eine oder andere Person, die sich schon erfolgreich selbst führt. Fragen Sie sie, wie sie das macht, suchen Sie sich Vorbilder und probieren ein paar Strategien an, bis eine passt.

IV. Energie und Haltung

Ist die Entscheidung zur Selbstführung gefallen, merken die meisten: Selbstgesteuert läuft es sich leichter, doch es braucht einiges an Energie, sich die Leine nicht wieder wegschnappen zu lassen, und zwischendurch ist die Versuchung groß, sie einfach fallen zu lassen – es wird schon jemand kommen und sie aufheben.

Verhalten macht Haltung, und es braucht Übung und Zeit, bis sich die innere Haltung stabilisiert. Das gilt für den Mitarbeiter, der zur Führungskraft befördert wurde, genauso wie für den frisch gebackenen Chef seines Selbst. Zunächst mögen Sie sich in der neuen Position konfus fühlen. Mit der Übung, d. h. mit dem täglichen Tun, kommt Routine, und damit entsteht langsam eine Haltung, die nichts anderes ist als eine für Sie spezifische Sammlung von verlässlichen Verhaltensmustern.

Einige frisch Beförderte fühlen sich auch nach Jahren noch als Kollegen, sind partnerschaftlich mit ihren eigentlich Subordinierten. Andere machen sich zu Fürsten, Kommandanten, Aufpasser. Eine Kundin erzählte mir, dass ihre Rolle einer Zirkusdirektorin gleichkommt, inklusive Löwen und Affen, und ein Kunde fühlte sich als Moderator des Musikantenstadl.

Keine dieser Haltungen ist in sich richtig oder falsch, und keine ist wirklich vorherseh- oder gar planbar. Alle sind jedoch einfach zu modulieren, zu formen, und ein probates Mittel dafür ist die Selbstreflexion. Weil die Beobachtung des Selbst schwierig ist, nehmen Sie sich einen Freund oder Freundin dazu, die auf einem ähnlichen Weg ist; eine Stunde pro Woche gemeinsam reflektieren ist hochwirksam. Mit der Zeit wird sich die innere Haltung festigen. Außerdem erfahren Sie durch das Reflektieren Selbstwirksamkeit: Sie erkennen, dass das eigene Tun einen maßgeblichen Einfluss hat, auf Sie selbst und andere. Und idealerweise spüren Sie, dass auch Haltung nichts unverrückbares ist, dass die wunderbare menschliche Flexibilität, unser inneres VUKA, auch bedeutet: Wenn die Haltung nicht mehr passt, haben Sie es in der Hand, sie zu ändern, jederzeit.

Weiter oben schrieb ich von den Beeinflussungen, die aus den Systemen kommen, in denen wir eingebettet sind. Wenn Sie sich nicht als Eremit in eine Höhle flüchten, werden Sie auch als Selbstführer systemisch eingebunden sein. Der Unterschied: Die eigene Beeinflussung – die einzige, die Sie selbst in der Hand haben – hat nun Priorität. Mit der passenden Haltung senken Sie den Energiebedarf, die Leine selbst zu halten, und es wird leicher, dem Impuls zu widerstehen, sie wieder abzugeben.

V. Gassi mit dem Selbst

Noch lange nachdem mein Hund zu meinem Ex-Hund wurde, ging ich vorm Schlafengehen weiter Gassi, alleine. Ich hatte das Verhalten in mir eingespielt, es tat gut, abends den Kopf zu lüften. Alleine Gassi gehen, ja ja, der Herr Maul schon wieder, höre ich die Stammleser kichern. Aber halt, machen Sie ruhig mal. Sie müssen nie einen Hund gehabt haben. Ab vor die Tür und immer der Nase nach.