Schüchtern in der Arbeitswelt
Erschienen in Menschen in der Arbeitswelt 11/2022.
Menschen in der Arbeitswelt, Ausgabe 11/22
Mit Gunnar Triebel und Mathias Maul, moderiert von Lucie Kluth. Abonnieren bei: Apple Podcasts, Spotify
Show Notes
Wenn Gunnar Triebel Vorträge halten soll, dann versucht er, dies zu delegieren. Nicht, weil er keine Lust hätte, sondern weil es ihm trotz 30 Jahren Berufserfahrung schwerfällt, vor Gruppen zu sprechen. Gunnar bezeichnet sich selbst als schüchtern und hat über die Jahre Strategien für sich entwickelt, damit die Arbeitswelt zu seinen Persönlichkeitseigenschaften passt. Wie er es als schüchterner Mensch zur IT-Führungskraft geschafft hat, erzählt er in dieser Folge unseres Podcasts „Menschen in der Arbeitswelt.“
Richtet man sich nach einigen Ratgebern, wäre das gar nicht so möglich. Dort wird häufig nur dazu geraten, die Schüchternheit zu „überwinden.“
Dass das selten ein nützlicher Ansatz ist, meint Mathias Maul, Berater und Coach bei Heykes & Karstens. Er begleitet vor allem Techies und damit Menschen auf der eher introvertierten Seite des Spektrums. Introvertiert sein ist vielen Situationen eine nützliche Fähigkeit; das eigentliche Problem sei die Stigmatisierung von „leisen“ Menschen, so erklärt er im Podcast.
„Techies müssen im Job nicht weniger kommunizieren als andere, aber nach außen – und oben – ist das oft nicht sichtbar. Deshalb erhalten sie recht selten Kommunikationstrainings, und so vergeben sich Unternehmen große Chancen.“ Der beste erste Lösungsansatz: Das Thema auf den Tisch bringen, offen und empathisch.
Transkript
Das Transkript wurde – inhaltserhaltend – leicht bearbeitet, um die Lesbarkeit zu verbessern. —mm
Lucie Kluth: Willkommen zu Menschen in der Arbeitswelt, ein Podcast der Hamburger Unternehmensberatung Heykes & Karstens. Ich bin Lucie Kluth, schön, dass ihr dabei seid. Hier im Podcast reden wir mit Menschen aus der Arbeitswelt. Fragen sie: was bewegt euch, was soll sich verändern? Und heute geht es um die ruhigeren unter uns, schüchterne Menschen in der Arbeitswelt. Wie ticken sie, was brauchen sie in Unternehmen und wie schafft man es mit dieser Eigenschaft nach ganz oben in die Führungsetage? Unser Gast hat das selbst erlebt, Gunnar Triebel war zu Besuch und erzählte von seiner persönlichen Geschichte. Willkommen Mathias Maul aus dem Heykes&Karstens-Team. Unser Gast heute ist Gunnar Triebel. Schön, dass ihr dabei seid.
Mathias Maul: Moin.
Gunnar Triebel: Moin.
LK Wir haben uns heute online zusammengefunden und reden über Schüchternheit in der Arbeitswelt. Darauf gekommen sind Mathias und ich durch ein Interview, das wir für die Heykes&Karstens-Homepage geführt haben. Da ging es um Mathias’ Schwerpunkt, nämlich Kommunikationstrainings für Techies, also Menschen in technischen Berufen. Und da bin ich ins Klischee gestolpert und meinte, ja klar, bei Techies stelle ich mir introvertierte, schüchterne Menschen vor. Und du, Mathias, meintest, dass es nicht nur darum geht, sondern auch darum, dass Techies sehr viel kommunizieren müssen.
MM Na ja, sie kommunizieren nicht notwendigerweise mehr als andere – sie kommunizieren mehr, als man denken würde. Wenn ich von einem stereotypen Software-Entwickler ausgehe—der wird von außen gesehen als jemand, der den ganzen Tag im Keller hockt und mit kleinen Äuglein auf den Monitor schaut und fünf Tastaturen gleichzeitig bedient. Tatsächlich sind das Menschen, die sehr viel kommunizieren müssen, und zwar unter Zeitdruck und von sehr vielen verschiedenen Stakeholdern Informationen einholen müssen. Das wird jedoch häufig, gerade wenn es um Weiterbildung oder um Coachings geht, nicht gesehen. Unter anderem deshalb ist das ein Thema, das ich bei Heykes & Karstens abbilde: Um eben genau diese Führungskräfte und Teams zu unterstützen und an den Stellen zu drehen, an denen es wirklich schnelle und deutliche Auswirkungen auf die Arbeit hat.
LK Also werden schüchterne Menschen ein bisschen vernachlässigt in der Arbeitswelt?
MM Sie werden vielleicht nicht so deutlich gehört wie andere, und ihre Bedürfnisse werden vielleicht nicht so deutlich gehört wie die Bedürfnisse der anderen. Das kann dann zu einer Vernachlässigung führen, wenn das Unternehmen so ausgerichtet ist, dass es nur auf die hört, die laut sind.
LK Was mich jetzt bei der Vorbereitung überrascht hat und ganz interessant war: Wenn man bei nach Google Introvertiertheit oder Schüchternheit sucht, dann wird sofort von Problemen gesprochen und über Vorurteile, oder auch andersherum gibt es „Tipps für ein leichteres Leben.“ In einem Bericht einer Krankenkasse steht dann, die Introvertierten gehen direkten Konflikten oftmals eher aus dem Weg oder geben schneller nach. Es ist schon eher negativ konnotiert.
MM Ja, wenn dieser Bericht von einer Krankenkasse veröffentlicht wurde, vermute ich, dass Sie ein Teil der Informationen aus den Klassifikationen entnommen haben, die … wenn wir zum Beispiel die Klassifikation des Störungsbildes „soziale Phobie“ anschauen, da steht tatsächlich drin, dass Menschen mit dieser Persönlichkeitsausprägung Konflikten aus dem Weg gehen. Nun, was hilft mir die Generalisierung, wenn ich einzelne Menschen betrachte?
LK Wie du arbeitest, Mathias, das vertiefen wir später noch. Jetzt geht es erstmal um unseren Gast, nämlich Gunnar. Gunnar, du arbeitest bei Zeal Network SE, unter anderem gibt es da Produkte wie Tipp24 und Lotto24, wenn ich jetzt richtig bin. Was genau machst du da, seit wann und in welcher Position?
GT Ich arbeite bei Zeal Network, das ist der führende Onlineanbieter für Lotterien in Deutschland. Besser bekannt sind die Marken, die du schon benannt hast, Tipp24, Lotto24. Wir betreiben auch Lotto-Services für Partner. Zusätzlich zu den staatlichen Lotterien haben wir in den letzten Jahren eigene Produkte entwickelt, nämlich Soziallotterien wie Freiheit Plus und Traumhaus-Lotterie. Wir sind nicht nur in Deutschland aktiv, sondern haben auch eine Kooperation mit Once in Spanien. Bei Zeal Network, Tipp24, Lotto24 bin ich seit 17 Jahren in dem Kontext unterwegs – mit Unterbrechungen. Aktuell arbeite ich als interner technischer Consultant und unterstütze die verschiedensten Bereiche.
LK Ich habe mir aufgeschrieben, deine Karriere ist nicht ganz gradlinig verlaufen. Im Vorgespräch hast du etwas erwähnt, was wahrscheinlich damit zusammenhängt. Du hast nämlich selbst von dir gesprochen als von einem schüchternen Wesen. Ich falle jetzt mal so ein bisschen mit der Tür ins Haus: Wie schwer fällt es dir denn jetzt hier zu sprechen im Podcast als ein Mensch, der schüchtern ist?
GT Das geht sogar, wir haben ja alle online geübt die letzten Jahre, dadurch fällt es mir relativ leicht und ich konzentriere mich auf euch. Ich glaube, die Fokussierung ist wichtig. Und ja, die Schüchternheit, ich selber definiere mich so, weil ich einige Erfahrungen in der Jugend gemacht habe. Ich war groß, schlank, der Dürre da hinten in der Ecke und dadurch kamen auch die ganzen normalen Mechanismen, die man heute Mobbing nennt … es war für uns ganz normal, dass man hin und her geschubst wurde. Und daraus hat sich halt dieses Thema mit Vertrauen, Selbstvertrauen und so weiter nicht so doll entwickeln können. Und jetzt habe ich ein Selbstvertrauen, mit dem ich aus der Schüchternheit in eine Stärke kommen kann. Ich kann reden, ich kann mit euch kommunizieren, das funktioniert alles und ich bin nicht mehr so introvertiert wie früher.
LK Also du hast eine Entwicklung hinter dir. Fangen wir mal ein bisschen von vorn an, wann hast denn du das wahrgenommen, dass du schüchtern bist, und hast du das als Makel empfunden?
GT Ja, definitiv, schon bei ganz normalen Situationen in der Schule. Bevor ich mich gemeldet habe, mussten echt viele, viele Sachen passieren. Ich habe mich auch immer gefragt, warum meine Meinung nicht wichtig ist. Auf Leute zuzugehen, war sehr schwer im Jugendalter, aber im Endeffekt hat sich durch einige Ereignisse halt ergeben, dass ich es musste und dass ich da rauskommen musste, um weiterzukommen und mich zu dem entwickeln, was ich jetzt bin, oder eher: wie ich jetzt bin.
LK Aber der Schritt dann in die Arbeitswelt, war der schwierig?
GT Der war interessant.
LK Okay, sehr diplomatisch ausgedrückt.
GT Also interessant dahingehend, dass ich mir erst auf dem zweiten Bildungsweg die Voraussetzung fürs Studium erarbeitet habe und dann über das Studium mich auf einen Praktikumsplatz bewerben musste. So hat sich halt auf einmal Arbeit ergeben. Für mich spannend war, dass die Leute mehr in mir gesehen hatten, als ich mir selbst zugetraut habe. Ich war halt derjenige, der die Computer auseinandergenommen hat in den 90ern, der Leuten erklärt hat, wie eine Maus funktioniert. Ich stand vor – aus meiner Sicht – älteren Leuten und hab ihnen eine Maus erklärt. Ich wurde reingeschubst in die Situation. „Okay, dann mach ich mal.“ Und so hat sich über das Ganze auch entwickelt, dass ich immer wieder reingeschubst wurde von außen, und ich konnte nicht aus der Situation heraus, weil ich selber dann dachte: Hey, ich hab Commitment.
LK Und wie bist du dann Führungskraft geworden? Hast du das eben durch das gesteigerte Selbstvertrauen gemacht oder hat sich das dadurch entwickelt?
GT Jein. Ich habe 2005 bei Tipp24 angefangen und war als Mitarbeiter die Schnittstelle zwischen dem Operations-Bereich und der Entwicklung, das nannte sich Release-Management. Die Themen haben sich einfach ergeben, dass immer mehr Aufgaben dazukamen und ich auf einmal in eine Führungsposition gekommen bin, mein ersten Mitarbeiter bekommen habe. Das Wichtigste für mich war Intuition, also versuchte ich … so wie mit mir umgegangen werden soll, gehe ich auch mit anderen um … und so hat sich das Ganze dann entwickelt. Wieder bin ich reingeschubst worden.
LK Bei dir waren das dann eigentlich die anderen, die etwas in dir gesehen haben. Mathias, ist das eine gute Hilfestellung für schüchterne Menschen?
MM Das Reinschubsen meinst du?
LK Ja.
MM Ich bring mal dieses schöne Wort Komfortzone ins Gespräch. Komfortzonen sind ja genau die, die häufig gar nicht so komfortabel sind. Die, in denen man sich wiederfindet oder in die man vielleicht sich selbst reingeschubst hat oder irgendwie verharrt. Und dann bedarf es irgendeines Impulses, um rauszukommen und weiterzukommen. Gunnar, du meintest eben, du wurdest immer wieder geschubst, oder sagen wir mal, du hast dich entschieden, dich Situationen aussetzen zu lassen, in denen du dich verändern konntest. Das ist schon eine gute Idee, dieses Sich-Schubsen-Lassen, wenn man davon ausgeht, dass der eigentliche Schubser immer von einem selbst kommt, denn du, Gunnar, du hättest bei den Beförderungen sagen können, nee mache ich nicht, ich werde keine Führungskraft, ich gehe weg, ich mache etwas anderes, ich werde Schreiner oder gehe Schafe hüten. Das gehört immer dazu.
GT Das Wort Impuls ist mir eben nicht eingefallen. Die Entscheidung lag immer bei mir. Ich hab’ nur den Impuls immer wieder bekommen: hey, du bist da gut oder hey, mach das doch mal, probier’s mal aus, kann ja nicht viel passieren und so weiter und so fort. Also das Vertrauen von anderen zu bekommen, ist wichtig, um zu sagen, ich setze mich einer Situation aus, in der ich mich erst nicht wohlfühle. Aber ich habe das Vertrauen von anderen, dass ich auch Fehler machen darf.
MM Ja, das ist total wichtig.
GT Da ist Impuls wirklich ein gutes Wort. Am Ende des Tages habe ich es selbst gemacht und mich weiterentwickelt.
LK Ja, aber lass uns noch mal so ein bisschen teilhaben daran, was denn Schüchternheit im Alltag in der Arbeitswelt eigentlich bedeutet. Was würdest du sagen für dich, ja, daran kann ich das festmachen, das fällt mir schwer oder das ist nicht so einfach für mich?
GT Also mir persönlich fällt es schwer, vor vielen Leuten zu reden, mich auf eine Bühne zu stellen. Ich habe eine Vermeidungsstrategie, ich versuche, andere dazu zu bringen, dass sie das sagen, was ich sagen möchte. Das ist eher humorvoll gemeint jetzt gerade … aber wow, da habe ich Respekt vor, weil es nicht trainiert ist, ich habe kein Training für mich. Ich mache es trotzdem, das ist kein Thema, aber ich gucke immer, dass ich andere begeistern kann. Das ist ja auch eine Strategie.
LK Auf jeden Fall. Ziemlich clever.
GT Man muss seine Stärken kennen.
LK Ja, auf jeden Fall, also man muss auch delegieren können. Dann hast du ja aber zeitweise auch sogar 80 Menschen unter dir gehabt. Wie schafft man es denn, sich als schüchterne Person mit 80 Personen auseinanderzusetzen?
GT Indem man das nicht alleine macht. Im Dual Leadership habe ich die Abteilung geführt. Das war im Engineering-Bereich, also Entwicklung, QA und so weiter. Und damals gab es eine Möglichkeit, die Führung zu übernehmen und wir haben es zu zweit gemacht. Ich war eher der, ich nenn es jetzt Außenminister, also diese ganze strategische Thematiken und es gab einen Innenminister. Wichtig dabei ist, dass man nicht die gleichen Kompetenzen hat. Wir haben das aufgeteilt und miteinander auch immer wieder Entscheidungen getroffen. Das war echt gut, weil ich so meine Kompetenzen ausspielen konnte und auch immer wieder jemanden hatte, der Feedback gegeben hat und dem ich Feedback geben konnte und so weiter. Und das habe ich nicht nur einmal gemacht, sondern auch später nochmal, wo ich dann auch eine Entwicklungsabteilung bei Lotto24 geleitet habe im Dual Leadership mit unserer Personalchefin. Und das war grandios. Dadurch habe ich auch immer wieder das Feedback oder diesen Antrieb, diese Impulse bekommen. Das Wort Impulse bleibt mir heute in diesem Gespräch, glaube ich. Ich konnte mich weiterentwickeln und wir hatten dadurch die Möglichkeit, auch mehr aus dem Ganzen zu machen, weil es nicht nur eine Führungskraft war, die alles sagte und alles auszuhalten hatte, sondern man konnte gemeinsam verschiedene Perspektiven nutzen.
LK Du hast auch einen Break in der Karriere gehabt. Hatte diese Unterbrechung auch was mit der Schüchternheit zu tun?
GT Nachdem ich dieses Dual Leadership gemacht hatte, habe ich dann gesagt, ach jetzt bin ich ja bereit und nehme mal eine gesamte Abteilung, also ich übernehme Verantwortung für eine Abteilung. In dem Moment habe ich mich selbst überfordert. Das heißt, ich habe Verantwortung übernommen für mich selbst und für die Abteilung. Damit bin ich nicht klar gekommen, weil meine Strategien, die ich hatte, noch nicht so entwickelt waren, wie ich dachte. Das hat mich zum Burn-out geführt, das ist jetzt knapp zehn Jahre her. Das wiederum hat dazu geführt, dass ich mich habe ausbilden lassen habe zum systemischen Coach, geguckt, wo sind meine Stärken, wie kann ich meine Kompetenzen einbringen. Nach dem Break habe ich auch wieder bei Lotto24 angefangen, wieder erst als Externer und dann intern wieder Abteilungen übernommen, auch Dual Leadership gemacht und so weiter und so fort. Der Break hat mich weitergebracht, weil ich in ein ganz tiefes Loch gefallen bin und daraus wieder mit neuen Kompetenzen rauskam.
LK In der Situation selbst zu merken, ich liefere das gerade hier nicht ab, wie war das? Konntest du das überhaupt eingestehen?
GT Ehrlich? Bedingt. Je näher ich zur Arbeit kam, um so mehr Bauchschmerzen hatte ich, über Wochen und Monate. Ich habe dann irgendwie performed, wie auch immer. Ich weiß es bis heute nicht, wie ich das hingekrieGT habe, aber am Ende war ich so schlapp, dass mir Kollegen gesaGT haben, (a) lass dein Handy mal hier und (b) du gehst mal bitte da drüben zum Doktor. Also ich wurde wirklich rauskomplimentiert. Hey du siehst nicht mehr gut aus, kümmer dich um dich. Das war wieder der externe Impuls und dafür bin ich auch heute noch froh, weil ich mich dadurch auch zu einem frühen Zeitpunkt um mich kümmern konnte. Und ja, ich habe es gemerkt, aber ich wollte es mir nicht eingestehen.
LK Und wieso, das hast du wahrscheinlich ja selber für dich auch analysiert? Warum bist du in diese Überforderung reingegangen?
GT Das ist eine sehr gute Frage und sehr interessant. Ich weiß es nicht.
LK Auch das eine kleine Notiz aus unserem Vorgespräch: Durch die Pandemie verändern sich viele Situationen. Das ist schon ein alter Hut, alles ist online, viele Konferenzen sind online gelaufen. Das war für dich besonders anstrengend, hast du mir erzählt?
GT Ja, ich habe sehr viele Sachen im Büro gemacht. Einfach an der Kaffeemaschine viele Themen aufgenommen, mit Leuten diskutiert, mal kurz fünf Minuten geredet und diesen gesamten Kontakt aufrecht erhalten, Leute zusammengebracht. Manche Kollegen von mir sagten, oh, dein Büro ist die Küche da hinten. Das war es auch. Über den Kaffee-Konsum möchte ich jetzt nicht reden. Und im Endeffekt saßen wir von einem Tag auf den anderen in der Pandemie, und dann hast du keine Kontakte mehr, sondern du guckst nur noch in das Zimmer. Und dann … warte mal, wie gehe ich jetzt auf Leute zu? Wenn ich sie einfach anrufe, störe ich sie.Im Büro konnte ich einfach hingehen, um die Ecke gucken, und denken … ahh ja, der sieht so aus, als ob ich kurz mal mit dem reden könnte … oder auch nicht. Also man sah es und konnte dann interagieren. Hier? Im Zimemr? Wie gehe ich damit um? Wie kriege ich Informationen, und wie kann ich Informationen weitergeben? Das war in den ersten Wochen, Monaten echt schwierig. Und das war eine Challenge für mich.
LK Mathias, hattest du auch Klientinnen und Klienten, die damit zu kämpfen hatten während der Pandemie?
MM Wenige, die nicht damit zu kämpfen hatten. Wobei kämpfen vielleicht ein bisschen übertrieben ist. Es spielten sich natürlich viele Veränderungen in den Teams ab. Und eine, der – wie Gunnar schon sagte – großen Veränderungen war, dass die Kaffeemaschine nicht mehr da war. Und die andere, dass die Kommunikation in Video-Meetings auf einer ganz automatischen, unbewussten Ebene eine völlig andere ist, als die persönliche. Allein dadurch, dass es eine minimale Zeitverzögerung zwischen dem gibt, was der andere saGT und was ich sehe, kommen Mechanismen durcheinander, die sich Leute in Jahrzehnten der Kommunikation angelernt haben. Vor allem die, die sich aufgrund ihrer hohen Sensitivität eher ein bisschen zurückziehen und eher introvertiert sind. Vor allem in Gruppensettings, die spürten das um so mehr. Und dann wurden nach einiger Zeit die Kameras ausgeschaltet und es gab weniger Meetings und man versuchte, sie zu vermeiden. Ja, also da gab es schon einiges zu tun.
LK Aber was kann man denn da machen? Wie kann man sich da helfen, wenn es einem schwer fällt, zum Beispiel online, sich in einer Gruppe zu äußern?
MM Wie bei allen Veränderungsprozessen ist es hilfreich, das Thema auf den Tisch zu bringen und allen die Chance zu geben, ihre Bedürfnisse zu äußern und zu sagen, naja, es geht mir hier deshalb so und so gut oder eben nicht so gut. Allein dadurch, dass nicht gesagt wird „so, wir treffen uns alle online und ihr müsst damit klarkommen“ … es ist hilfreich, wenn diese Schubse, vielleicht ist das Wort jetzt ein bisschen überbordend – liebevoll? – kommen oder zumindest achtsam, wobei dieses Wort auch seine Probleme hat. Auf jeden Fall nicht, dass man die Leute in die Meetings oder in die neuen Settings reinzieht oder reinwirft und saGT hier, das müssen wir jetzt so machen, sondern dass das Thema auf den Tisch kommt und besprochen wird.
GT Was ja am Anfang auch oft gemacht wurde, ist einfach das Büro 1 zu 1 in online abzubilden, also ich war immer erreichbar und man hat ständig Meetings. Die Mechanismen haben sich erst ergeben. Insbesondere Softwareentwickler und die Introvertierten waren froh, wenn sie in Ruhe gelassen wurden und programmieren konnten. Es hat auch Vorteile, man darf das eine nicht übertreiben und das andere nicht. Und hierbei spielt es eine Rolle darauf zu schauen, wie jedes Team für sich agiert. Den Rahmen der Zusammenarbeit muss jedes Team für sich die Organisation im Gesamtkontext erarbeiten. Natürlich wurden da viele Sachen ausprobiert. Jetzt nach zweieinhalb Jahren kann man sagen, da haben sich Mechanismen entwickelt, die für Teams funktionieren. Für manche Teams haben sie sich vielleicht noch nicht entwickelt, aber es wurden auf alle Fälle viele Sachen ausprobiert, wo man die Bürowelt auch interagieren lässt … hybrides Modell und so weiter. Und dass man halt die Möglichkeiten hat, auf den anderen acht zu geben. Ich nehme ein Beispiel: ein virtuelles Office einzurichten hat für einige Teams funktioniert. Für andere funktioniert es nicht, weil sie sich gestört fühlen. Das muss man sich dann individuell angucken. Oder man sagt zum Beispiel, dass es Meetings nur vormittags gibt, und nachmittags möchte ich arbeiten, also programmieren. Und das sind halt Dinge, die mussten sich erst erarbeiten.
LK Mathias, deine eigene Biografie ist ja auch total spannend. Es ist, glaube ich, auch nicht ganz von der Hand zu weisen, dass das, was du selbst erlebt hast, auch ein bisschen in deinem Beruf reinspielt. Ich habe mir aufgeschrieben „vom Stotterer zum Coach,“ der jetzt vor Live-Publikum Trainings gibt. Wie ist es dazu gekommen?
MM Rückblickend ist es natürlich leicht zu sagen, dass es so passiert ist, weil dies oder das … aber das sind alles Hypothesen, die ich jetzt aufstelle. Ich glaube, mich trieb immer Neugierde um, sie treibt mich auch noch heute, weshalb Dinge so sind, wie sie sind. Auch im Wissen, dass ich nie genau herausfinden kann, warum jemand sich so verhält, wie er sich verhält, ist es ist immer sehr bereichernd, ein bisschen zu erkunden, wie sich Menschen und Verhaltensweisen über die Jahre ändern. Und welche, um das Wort noch mal zu nehmen, Impulse dazu beitragen, dass Veränderungen geschehen können. Bei mir war es tatsächlich so, dass ich wie viele viele andere auch in der Kindheit begann zu stottern … und das hörte einfach nicht mehr auf. Viele Kinder haben ein so genanntes Entwicklungsstottern, das kommt und geht und ist schon so weit in Ordnung, nur ließ es bei mir nicht mehr nach, sondern wurde schlimmer. Und das begleitete mich eben viele Jahre. Es dauerte eine Zeit lang, bis ich dran kam, bis ich die richtige Kombination gefunden hatte aus Therapeuten, die mir helfen konnten, das zu lösen. Und dann wollte ich wissen, (a) wie ist es dazu gekommen und (b) noch viel wichtiger, wie kann ich anderen helfen, das auch zu lösen. Und da neben diesem sprachlichen Problem natürlich auch psychische und emotionale Themen dran hingen, war es mir – nachdem ich raus war aus diesem Thema – echt auch ein Anliegen, andere zu unterstützen, sich selbst weiterzuentwickeln und eben sich auch die Impulse zu geben, wenn sie von anderen nicht kommen oder wenn sie eben nicht ein Setting haben, in dem sie unterstützt werden und kein Setting haben, in dem andere – wie Gunnar sagte – sie bewegen, sich zu verändern. Und dann kam eines zum anderen und jetzt bin ich am anderen Ende der Skala, wobei ich – wirklich wichtig – betonen will, dass es nicht eine eindimensionale Skala ist, auf der einen Seite introvertiert, aber auf der anderen extrovertiert, genauso wenig wie auf der einen stottern, auf der anderen nicht stottern. Wenn ich Fremdsprachen spreche, bin ich manchmal immer noch nicht symptomfrei. Im Englischen geht es inzwischen ziemlich gut, seit gut sechs, sieben Jahren, aber wenn ich andere Sprachen spreche, dann ist das Stottern noch da. Und allein daran merke ich, dass es keinen An- oder Ausschalter gibt von Persönlichkeitsmerkmalen oder Verhaltensmerkmalen. Das ist immer ein Kontinuum. Und vielleicht ist auch die Frage, ist Introvertiertheit oder Schüchternheit, die mich ja auch begleitet hat … ist das jetzt etwas behandlungsbedürftiges? Ist das etwas Schlimmes? Nur weil die – sehr generalisiert gesagt – die Lauten, die Extrovertierten den Standard setzen, weil sie eben mehr gehört und einfacher gehört werden, könnte es so erscheinen, als wäre das Introvertiertsein etwas schlechtes, etwas stigmatisierungswürdiges. Und genau da setze ich gerne an, dass ich auch in Teams oder bei Menschen, die sich wegen dieser Introvertiertheit oder Schüchternheit nicht ganz fühlen oder nicht voll oder nicht richtig oder nicht gesund. Um jetzt den Bogen zu schließen, hilft mir meine Erfahrung mit der Stigmatisierung, glaube ich, ganz gut, also setze ich da an und sage, wir gucken erst mal drauf: ist es überhaupt was Schlimmes? Und erst dann: Wie können wir daran arbeiten?
GT Es hat ja auch Vorteile. Und zwar die Vorteile, dass man aufmerksam beobachtet. Ich sehe Situationen sehr gut von außen. Da diskutieren viele Leute und ich habe meine eigene Meinung und ich beobachte. Und wenn man diese Meinung, die dann entsteht oder diese Beobachtung, die entsteht, rauszaubern kann, dann ist das so wertvoll. Das ist etwas, was eine Stärke sein kann, die kann man rausholen und hat auch die Möglichkeiten zu erfragen und Perspektivwechsel hinzubekommen.
LK Wird das, Mathias, denn umgesetzt in Unternehmen und gesehen?
MM Ich merke in den letzten … drei … Jahren, würde ich mal sagen: Wenn man früher von Health Oriented Leadership sprach, dann ging es um Rückenschule und um die Frage, wie sitze ich richtig am Monitor, damit mein Nacken nicht weh tut. Und das hat auch damit zu tun, dass diese Unterscheidung zwischen „Hard Skills“ und „Soft Skills“ – zwei Begriffe, die ich gar nicht mag und gar nicht nützlich finde – immer mehr verschwindet. Dass das alles, was so als soft, als menschlich, als emotional gesehen wird, zunehmend interpretiert wird als etwas, was wirklich sinnvoll ist und wirklich nützlich.ass man den Menschen auch als Menschen betrachtet. Und das ist tatsächlich gekommen in letzter Zeit. Und ich habe den Eindruck, dass es deutlich mehr in den Vordergrund rückt. Ich kann jetzt keine Aussage über die Arbeitswelt als Ganzes treffen. Es fällt mir vor allem mit Unternehmen auf, bei denen der Kontrast so groß ist. Wenn ein metallverarbeitendes Unternehmen plötzlich von Burnout-Präventionen spricht, ist das schon ein ziemlich großer Schritt. Und es geht da nicht mehr nur um „wir arbeiten x Stunden weniger die Woche“ oder „wir haben ein Mitarbeiter-Grillen einmal im Quartal,“ sondern sie gucken auf das, worum es wirklich geht, nämlich darauf, wie die Menschen ticken und bringen das Thema auf den Tisch. Und da ist es durchaus angekommen, ja.
GT Aber es gibt keine Pauschale. Es ist immer situativ. Ich kann ein Beispiel nennen: Ich bin eher jemand, der beobachtet, guckt und dann erst einen Tag später seine Meinung sagt. Das war jetzt mein Chef-Argument hier. Weil ich einfach sage, warte mal, hier fehlt es mir an Informationen. Und die Frage ist, wie wird dieses Thema reingenommen? Ja, wie wird das auch im Online? Also wir sehen uns ja nur zum Teil, also nur dem Oberkörper. Niemand kann meine Körperhaltung wirklich sehen. Das hat Mathias vorhin schon angesprochen. Und die Frage ist, wie werden auch diese Dinge jetzt berücksichtigt?
LK Ich würde noch mal ganz gerne zurückkommen auf die Impulse. Schaust du selbst auch, dass die ruhigeren Kollegen weiterkommen, also so wie bei dir, dass so wie dir Impulse gegeben worden sind, dass du das auch versuchst?
GT Ja, ich probiere es im Kontext von Projekten auch mit direkter Ansprache. Dann, wo ich dann direkt mich bei demjenigen melde, wenn es innerhalb des Meetings oder so weiter nicht geht. Einfach die Frage, hey, du warst still, wie sieht es bei dir aus? Sind da noch wertvolle Dinge, die wir jetzt mit aufnehmen sollten? Das sind aber immer situative Themen. Online, wie vorhin schon gesagt, ist es ein bisschen schwieriger. Im Büro ist es einfacher, weil man die Ansprache auch direkt machen kann, weil man die Körperhaltung direkt sieht.
LK Und andersrum gefragt, Mathias, wenn du Klientinnen und Klienten hast, die eher auch diesem Spektrum zugeordnet werden können, wie kann man sich die Arbeit vorstellen? Hast du ein Praxisbeispiel?
MM Ich habe so ein halb pauschales Beispiel. Was zuverlässig gut funktioniert bei Leuten in technischen Berufen ist … wenn du einen typischen Softwareentwickler nimmst, dann ist das eine Person, die sehr strukturiert, sehr klar denken kann, sehr gut Abläufe befolgen kann und sehr, sehr geübt darin ist, kreativ zu sein, und zwar auf Zuruf kreativ und auf Zuruf unter Zeitdruck kreativ. Das ist schon ziemlich cool. Das sind alles Fähigkeiten, die zum Beispiel auch auch Ingenieure haben und die sie oft als selbstverständlich betrachten. Sobald sie herausfinden, und das funktioniert durch die Bank immer wieder, dass sie mit dieser Fähigkeit der Strukturierung auch an ihre Emotionen rangehen können – Thema emotionale Autonomie –, dass sie ihr Innenleben ebenso strukturiert sortieren können, sagen wir mal, wie sie ihre Arbeit sortieren, führt das fast immer zum Gewinn. Und das betrifft nicht ausschließlich dieses Thema Schüchternheit. Wobei ich wieder die Frage im Hinterkopf habe: ist es behandlungsbedürftig oder nicht? Es kann in bestimmten Kontexten nützlich sein und in bestimmten Kontexten nicht. Da hilft dann wiederum, und das ist das zweite, was immer wieder gut klappt und gute Veränderungen bringt, mit der Stigmatisierung aufzuräumen. Wenn mich ein Klient bittet, „tun Sie bitte etwas, um mich weniger schüchtern zu machen,“ dann ist meine erste Frage, wann wäre es nützlich, das zu ändern und eben nicht sofort zu sagen, okay, wir müssen das jetzt wegkriegen. Es ist eben eine Persönlichkeitseigenschaft, die in bestimmten Situationen super ist. Zusammengefasst ist es nützlich, zunächst die Problemhaftigkeit dieser Persönlichkeitsausprägung zu hinterfragen und erst dann weiter zu schauen. Und manchmal ist das dann gar nicht mehr nötig.
GT Ich glaube, es geht um Wertschätzung für sich selbst. Alles hat seine Zeit und alles braucht seine Zeit. Ich kann mich nicht von heute auf morgen ändern, aber ich kann über die Zeit beobachten und dann mein Verhalten anpassen. Und wertschätzen, dass es so ist, wie es jetzt ist. Dass es vollkommen okay ist, dass ich okay bin. Und wenn ich vor der Bühne stehe und sage, oh, ich möchte jetzt nicht auf die Bühne, dann ist das jetzt im Moment einfach mal eine Situation, in der ich gucken und mich fragen kann, möchte ich mich dahin entwickeln? Oder kommt das vielleicht erst später? Ich habe immer die Möglichkeit, Selbstwert zu entwickeln und die Wertschätzung mir selbst gegenüber und meiner Kompetenzen.
LK Also den eigenen inneren Konflikt und sich selbst anzunehmen.
GT Genau. Und das nicht als Schwäche, sondern zu sagen, hey, das ist okay.
LK Ein schöneres Schlusswort kann ich mir gar nicht vorstellen. Vielen, vielen Dank für diese Einblicke. Danke, Gunnar, dass du dir die Zeit genommen hast und auch vielen lieben Dank an dich, Mathias. Das war Menschen in der Arbeitswelt. Alle Infos zu Heykes & Karstens findet ihr auf der Homepage heykes-karstens.de oder auch bei LinkedIn oder Instagram. Schaut vorbei, lasst Likes da und vor allem ein Abo für diesen Podcast. Wir freuen uns. Danke, ciao.