Jeder Schritt zählt: Ein Plädoyer für mehr Präzision
Erschienen in Praxis Kommunikation 4/2018.
Vor einigen Monaten schwirrte ein Meme durchs Web: zu sehen ein Werbeprospekt von McDonald’s Japan mit perfekt inszenierten Burgern, daneben der Schnappschuss eines Tokioter Gastes mit seinem frisch zubereiteten Mittagessen. Zwischen inszenierter Werbung und Realität war kein Unterschied erkennbar. Einige Kommentatoren bemerkten zynisch, es sei doch nicht wichtig, einen Hamburger so perfekt zu machen, wenn man ihn sowieso verschlingt. Vergeudete Liebesmüh, unnötiger Perfektionismus!
„Sei perfekt!“ ist einer der in Coaching- und Therapie-Kreisen wohlbekannten fünf Antreiber, persönlichkeitsprägende Verhaltsmuster, über die der Transaktionsanalytiker Taibi Kahler 1975 schrieb. Der Wunsch – oder gar Trieb – zum Perfektseinwollen erscheint wie eine Summe der übrigen vier: Streng dich an! Sei brav! Beeil dich! Sei stark!
Wie oft grummelte es schon „Ich brauche nur noch drei Minuten!“ aus dem Bad, weil der Liebste den Bart noch nicht fertig gezupft hatte, das Taxi aber schon vor der Tür stand? Wie viele Mails kamen Tage oder Wochen zu spät an, weil man sie so lange überarbeitet hatte, bis sie wirklich ganz genau das ausdrückten, was sie ausdrücken sollen? Dem Bartzupfer und dem Mailschreiber hilft dann weder ein „Nun sei doch nicht immer so ein Perfektionist!“ durch die Badzimmertür noch das „Schicken Sie’s einfach los!“-Schulterklopfen des Chefs.
Ein konstruiertes Stigma
Auf den ersten Blick ist es so: Der -Ismus konstruiert ein Stigma, das in einer Gesellschaft mit Hang zum Zynismus hochwillkommen ist. Mitschüler definieren das Lob „Streber“ zum Schimpfwort um. Man hat nicht zu streben, sondern sich dem Durchschnitt zu fügen: Das Abwerten des Besonderen führt, kurzsichtigerweise über das Ausblenden der eigenen Unzulänglichkeit, zur eigenen Aufwertung. Der Ärger über den Bartzupfer ist die Fortsetzung: Als gesellschaftlich konstruierter Perfektionist verkörpert er das, was man nicht erträgt und doch heimlich bewundert.
Zurück zum Antreiber. Perfekt zu sein, oder – für diesen Artikel heruntergebrochen – Dinge perfekt zu machen ist natürlich ein an sich erstrebenswertes Ziel. Wenn eines der Beine des Stuhls, auf dem ich gerade sitze, kürzer wäre als die anderen, wäre er nicht perfekt und ich genervt. Keinem Schreiner würde man Perfektionismus vorwerfen, wenn er die Stuhlbeine gleichlang macht und die Schubladen so, dass sie wie Butter in den Schrank gleiten. Auch über Tippfehler lässt es sich köstlich aufregen, schließlich könne man seinen Text doch mal probelesen.
Der Autor sagt dann aber, irgendwann: So, jetzt ist gut. Fertig. Tippfehler? Wurst. Auch der Bartzupfer wird – irgendwann – fertig, und dann sitzt man im Taxi, die Liebste mustert das Kinn, sagt „Na da hinten haste aber noch eins vergessen“ und es ist egal. Über das Perfekte, das Fertigsein also, entscheidet eine innere Instanz, irgendwann ist man einfach fertig. Einige Menschen erreichen diese Schwelle früher, andere später – oder, gefühlt, nie. Dann werden sie verielleicht unglücklich. Doch sie irren, wenn sie glauben, ihr „Perfektionismus“ sei daran „schuld.“
Perfekt oder glücklich?!
Auf dem Cover einer dieser trendigen Selbstcoaching-Zeitschriften las ich in dick verschnörkelter Schrift: „Ich lass das jetzt so! Lieber glücklich als perfekt,“ ganz so, als würde das eine das andere ausschließen. Um diesen seltsamen Satz auseinanderzufieseln, hilft eine Begriffsklärung: Wenn etwas perfekt ist, bedeutet das zunächst nichts anderes, als dass es fertig ist. Ich könnte hier, mitten im Satz, … mit meinem Artikel aufhören, wenn ich glaubte, er sei perfekt. Mir fehlt aber etwas: Ich habe noch nicht alle Argumente vorgebracht und kein – hoffentlich kluges – Schlusswort geschrieben. Diese Schritte zum Fertigwerden bedürfen der Präzision. Und Präzision ist, im Vergleich zum Perfektsein, nicht nur Ansichtssache.
Schließlich kann etwas auch ohne Präzision fertig, also perfekt werden, ich denke an den Kuchen, den die Fünfjährige zum Muttertag zusammenzimmert. Irgendwie hält die Kerze auf dem Haufen aus Sahne und Mehlbröseln, aber präzise ist da nichts. Fertig, perfekt, heißt für mich auch, dass etwas für seinen Zweck genügt, der Möchtegernkuchen rührt das Herz.
Über das Perfektsein entscheidet der innere Maßstab. Wenn ich glaube, dieser Artikel ist reif zur Publikation, ist er perfekt. Meine Redakteurin mag anderer Meinung sein; dann (aber erst dann!) kann man sich auf eine neue, gemeinsame Deutung einigen. Der Präzision tut das keinen Abbruch. Sie ist notwendig, um weiter in Richtung des Fertigen zu kommen. Und sie orientiert sich an meist objektiv wahrnehmbaren Maßstäben.
Potenzfalten
Beim Origami gibt es Modelle, die sich erst nach zweihundert oder mehr Faltschritten aus einem Quadrat ergeben. Eine einzige ungenaue Faltung in Schritt sieben kann den Hirschkäfer, der nach Schritt 289 entstehen soll, sehr entstellen. Jeder folgende Schritt hängt eng mit allen vorherigen zusammen, und so potenzieren sich Millimeter-Fehler.
Eine bewährte Lösung für den -Ismus kann also sein: Mache jeden Schritt zum wichtigsten. Hier eine kleine Anleitung.
- Finde einen wahrnehmbaren Maßstab, um Präzision zu ermöglichen. Der Bärtige schaut in den Spiegel und schnippelt und zupft so lange, bis er keine abstehenden Haare mehr findet.
- Sorge dafür, dass jeder einzelne, präzise Schritt Spaß macht oder zumindest nicht nervt. Wenn das schwierig ist, mach die Schritte so klein, bis es wieder zumindest okay ist. Wer seine Steuererklärung ungern macht, obwohl eine Erstattung winkt, kann – nicht lachen! – jede einzelne Formulareingabe als präzise und befriedigende Aktion begreifen, die ihn dem Fertigsein, dem Perfekten, näherbringt.
- Übe auch außerhalb der dir bekannten kniffligen Situationen Entscheidungen zu fällen und dich daran zu halten. Das Perfekte, das Fertigsein also, basiert vor allem auf der eigenen Entscheidung, es gut sein zu lassen, genau so …
… wie ich es jetzt mache. Denn das Fertigsein zu definieren ist leichter, wenn jeder Schritt der wichtigste ist. Weil ich nach jedem einzelnen Schritt schon zufrieden bin und dann leichter den Absprung schaffe, als wenn ich einer vagen Zufriedenheit (dem perfekten Bart, der perfekten E-Mail) hinterherarbeiten würde.
Und dann kann „Sei perfekt!“ nichts weiter heißen als „sei fertig,“ und das sind wir sowieso alle.