MAULCO.
© Mathias Maul

Was bleibt, wenn Köpfe gehen?

Fachwissen ist nicht das Einzige, das fehlt, wenn Mitarbeiter ein Unternehmen verlassen. Implizites und Beziehungswissen ist mindestens gleich wichtig, doch ungleich schwieriger zu erfassen und zu bewahren.

Erschienen in technische kommunikation 4/2025.

Wenn Mitarbeiter aus einem Team oder Unternehmen ausscheiden, hinterlassen sie mehr als nur eine Arbeitslücke, die es mit neuen Menschen zu füllen gilt. Vieles von dem Wissen, das sie über die Jahre oder Jahrzehnte gesammelt und geschaffen haben, geht mit ihnen. Je nach Statistik, die man dazu befragt, liegen die Schätzungen zwischen etwa einem und fünf Jahresgehältern, die aufzubringen sind, um das Verlorene wieder aufzubauen – zusätzlich zur Einarbeitungszeit und zum Gehalt der „Neuen.“

Eine von vielen möglichen Klassifikationen unterscheidet drei Arten von Wissen. Explizites Wissen ist dokumentierbar in Prozesshandbüchern, Arbeitsanweisungen oder auch in Projektberichten. Diese sind üblicherweise gut genug gepflegt, um nach Weggang eines Mitarbeiters den fachlichen Teil der Lücke zu füllen und einen Nachfolger einzuarbeiten. Falls Dokumentationen expliziten Wissens unvollständig sind, können sie oft von den zurückgebliebenen aufgefüllt werden. Keine Arbeit, die man gerne macht, doch zumindest ist sie machbar.

Beim impliziten Wissen fällt dies deutlich schwerer. Implizites Wissen hilft, Fachwissen auf konkrete Situationen anzuwenden. Es entsteht aus langjähriger Erfahrung, die Fachliches mit dem für das Unternehmen und seine Projekte und Kunden Spezifischem zusammenführt. Zum Beispiel sind Vertriebsprozesse leicht zu dokumentieren, aber nur dann wirklich erfolgreich reproduzierbar, wenn die „Chemie“ zwischen den Beteiligten bekannt ist. Diese entwickelt sich jedoch unbewusst und oft über einen langen Zeitraum, und es gibt üblicherweise kein Textfeld in der Prozessdokumentation, in das es eingetragen werden könnte.

Eine dritte Form ist intuitives, zwischenmenschliches, soziopolitisches Beziehungswissen. Wie „tickt“ ein Kunde? Welche Bemerkungen sind in welchen Meetings hilfreich und welche eher zu vermeiden, wenn Person X anwesend ist? Es umfasst Know-how, das grundsätzlich nicht formalisier- und damit dokumentierbar ist: Urteilsbasierte Entscheidungsfindungen und intuitive Problemlösungsansätze, die über lange Zeit entstanden sind, oft im engen (und nie bewussten) Austausch mit Kollegen oder kundenseitigen Teams. Der Verlust dieses Wissens schmerzt am meisten, wenn Kollegen gehen. Plötzlich „knirscht“ es, und keiner weiß so recht, wieso.

Dass explizites Wissen durch Dokumentation vermittelt werden kann, wird für die Leserschaft dieses Hefts nichts Neues sein. Implizites Wissen kann man eventuell aus Meeting-Protokollen, Debriefings oder Projektberichten entnehmen. Beziehungswissen wird so automatisch und unbewusst abgerufen, dass eine direkte Dokumentation oder gar Weitergabe unmöglich erscheint.

Bernd Waterkamp: Die Schatzkiste öffnen

Als Interviewpartner trat Bernd Waterkamp bereits für den Artikel „Profit-Center Aftersales“ in Ausgabe 04/24 von ‚technische kommunikation‘ auf. Da er Aftersales als tief in ein Unternehmen integriertes System versteht, ist das Kultivieren und Bewahren von Wissen für ihn besonders relevant.

Mathias Maul: Du hast ja recht große Bereiche geführt. Hast du schon erlebt, dass nach einem Austritt oder Mitarbeiterwechsel negative Folgen entstanden sind, weil das Wissen nicht konserviert wurde?

Bernd Waterkamp: Klar. Das ist in vielen Unternehmen so. Manchmal betreibt man Aufwand, um verlorenes Wissen wiederzuerlangen, aber meist wird es einfach geduldet. Man nimmt es hin, es gibt keinen Aufschrei.

Mathias: Wieso? Da gehen doch echte Werte verloren.

Bernd: Ich denke, viele haben es einfach gar nicht auf dem Schirm, dass mit den Mitarbeitern auch Wissen geht. Fluktuation ist halt etwas Normales, ebenso Entlassungen und Abwerben. Es hängt an den nicht vorhandenen Prozessen, dieses Wissen im Arbeitszyklus zu dokumentieren.

Mathias: Gibt es denn einen Teil im Arbeitszyklus, in dem das Wissen typischerweise entsteht?

Bernd: Wissen wird oft informell geteilt, wenn man zusammensitzt in Pausen, Kaffeegesprächen oder auch Meetings. Zusammensitzen geht auch digital, aber lange nicht alle Unternehmen bilden das Informelle digital ab. Da wird nur noch die Agenda abgearbeitet. Die Zwischentöne oder das „zwischen den Zeilen“ wird nicht mehr nachbesprochen. Auch bei Dienstfahrten, wo früher drei, vier Kollegen im Auto saßen und stundenlang über Themen gesprochen haben, fand wichtiger Wissenstransfer statt. Diese Art der Kommunikation geht in der heutigen Organisation von digitalen Meetings oft komplett verloren, wenn die Organisation das nicht bewusst betont.

Mathias: Es geht also nicht nur um Fachwissen, sondern auch um dieses „Dazwischen-Wissen“, das sich im Team entwickelt? Wofür ist das wichtig?

Bernd: Das sind diese Tipps und Tricks. Der Austausch, bei dem man, eine Vertrauenskultur vorausgesetzt, über seine eigene „Schatzkiste“ plaudert. Jeder hat so seine geheimen Tricks, mit denen er ungern rausrückt, die aber das Salz in der Suppe sein können. Ich habe das schon in den 80ern in der Lehre erlebt. Die alten Meister hatten Spezialwerkzeuge in ihrer Kiste, die sie selbst gebaut hatten. Und diese Kiste war ihnen heilig, die wurde abends verschlossen. Privateigentum. Das meine ich mit dem Wissen „zwischen den Zeilen.“

Mathias: Und dieses Wissen ist vermutlich auch nichts, worüber die Leute bewusst nachdenken?

Bernd: Das ist oft nicht bewusst, richtig. Wenn du dann das Vertrauen des Meisters gewonnen hattest, war er stolz, es dir zu erzählen und beizubringen. Das ist auch in unserer Arbeitswelt so. Manchmal denken erfahrene Mitarbeiter, die neuen verstehen es eh nicht. Dann findet dieser Wissensaustausch nicht statt, und es entwickelt sich auch kein neues Wissen oder keine neue Wertschöpfung.

Mathias: Wenn ich jetzt zu Fritz gehe, der bald in Rente ist, und sage: „He Fritz, erzähl mir mal dein Wissen“, würde der mich wahrscheinlich verdutzt angucken. Wie kann man Leute motivieren, ihr Wissen zu teilen?

Bernd: Ich glaube schon, Fritz würde mitmachen, weil er auch ein bisschen stolz ist auf das, was er geschaffen hat. Aber das ist nicht der Sinn der Sache. Leute teilen Wissen, wenn sie merken, du hast ehrliches Interesse an ihrer Arbeit. Nicht, wenn du nur kommst, um Wissen abzusaugen. Der erfahrene Kollege will sein Wissen oft weitergeben, damit es in seinem Sinne weiterverarbeitet wird. Wenn du einfach hingehst und sagst: „Fritz, du gehst bald in Rente, ich soll dich im Auftrag der Geschäftsführung interviewen“, dann kriegst du bestimmt nicht, was du brauchst. Du musst dich vorbereiten, einen Leitfaden haben und ein Gespür dafür entwickeln, welche Information wertvoll ist. Wir reden hier ja von dem Wissen, das nirgendwo steht.

Mathias: Hat das auch mit der Unternehmenskultur zu tun, ob die Leute mitmachen?

Bernd: Klar. Früher ist der Wissensverlust vielleicht nicht so aufgefallen, weil die Leute lange im Unternehmen geblieben sind. Heute ist die Fluktuation viel höher, verstecktes Know-how geht verloren. Und wenn die Firmen das Homeoffice nur zum Abarbeiten nutzen und die informelle Kommunikation verschlafen, kommt auch kein neues Wissen zwischen den Zeilen nach.

Mathias: Wann wird dieser Verlust spürbar?

Bernd: Die Leute im Operativen spüren oft sehr schnell, wenn Vertrauenspersonen oder Ansprechpartner nicht mehr da sind. Das ist ein emotionaler Verlust. Die Zurückgebliebenen reden vielleicht nicht darüber, aber sie nehmen es hin. Man merkt es, wenn Abläufe nicht mehr flüssig laufen, weil man nicht mehr einfach Fritz anrufen kann, der immer eine Antwort wusste.

Mathias: Wie könnte man das implizite Wissen denn sichern?

Bernd: Es gibt keine Patentlösung. Was immer hilft, ist Kommunikation generell zu fördern, sie als hohen Wert einführen und nicht nur als Nebensache, die man halt braucht, um irgendein Ziel zu erreichen.

Mathias: Kommunikation als Nebensache, das klingt wie Aussitzen. Unangenehmes Thema?

Bernd: Klar. Das wird oft so gesehen. Es ist vor allem für Techniker zu kompliziert, das sind menschliche Themen, da hält man Abstand. Aber sie passiert ja sowieso, da arbeiten schließlich Menschen zusammen. Also muss man sie würdigen und ihnen einen Wert geben.

Mathias: Wie wählt man diejenigen aus, deren Wissen man konservieren möchte?

Bernd: Das entwickelt sich oft von selbst. Man merkt es, wenn sich Grüppchen bilden, die zusammen zu Mittag essen oder Kaffee trinken. In diesen Teams gibt es oft einen, dem man gerne zuhört, kommunikationsfreudig, kein Griesgram, offen, freundlich, höflich. Zu solchen Menschen kann man auch ohne Angst gehen und „dumme“ Fragen stellen.

Mathias: Das ist ein gutes Filter-Merkmal. Wem kann ich die dümmste Frage stellen, und er ist immer noch offen?

Bernd: Genau, die Leute, die gerne teilen, Respekt haben und den Fragenden nicht lächerlich machen. Du merkst als Mitarbeiter sehr schnell, bei wem es sich lohnt, Wissen zu sammeln.

Mathias: Dann stellt sich die Motivationsfrage bei den wirklich wichtigen Wissensträgern kaum, weil die, die sehr ungern teilen, vielleicht auch diejenigen sind, deren implizites Wissen wir gar nicht brauchen?

Bernd: Ein Experte, mit dem kein Smalltalk möglich ist, wird sein Wissen nie preisgeben. Man muss sich dann eher fragen: Hat er wirklich das Wissen, das das Team weiterentwickelt? Oft ist die Antwort Nein. Dann brauche ich sein Wissen vielleicht gar nicht zu speichern, weil es rein fachlich ist und ich es mir auch anderswo aneignen kann.

Mathias: Um dich als ehemaligen Redakteur zu fragen – spielen Technische Redakteure hier eine Rolle?

Bernd: Eine ganz wichtige. Wer außer Redakteuren hat denn diese weit entwickelten Fähigkeiten, Informationen zu erfragen und aufzuarbeiten? Die sind auch gewohnt, dass jemand dreimal Nein sagt, bis sie ihn überzeugt haben, wie wichtig sein Beitrag ist.

Grenzen der Automatisierung

Nun könnte man meinen, wieso Überzeugungsarbeit leisten, wenn doch wenigstens ein großer Teil der Kommunikation sowieso technisch konserviert wird. Tatsächlich gibt es eine Menge Software, die teils vollautomatisiert Informationen aus E-Mails, Slack-Threads, Meeting-Mitschnitten und anderen Quellen extrahiert und aufbereitet. Hierzulande genügte wohl schon die Erwähnung dieser Programme, um von Belegschaft oder vom Betriebsrat mindestens schräg angeschaut und maximal aus dem Raum gejagt zu werden. Dies durchaus zu Recht. Obgleich betriebliche E-Mails und andere Kommunikation dem Unternehmen „gehören“, ist der direkte Eingriff in Kommunikationsprozesse an sich bereits übergriffig genug. Man stelle sich die möglichen Auswirkungen auf das eigene Kommunikationsverhalten vor, wüsste man, dass die eigenen Nachrichten analysiert werden.

Anders sieht es bei Informationen aus, die ohnehin sichtbar zur Verfügung gestellt werden: Meetingprotokolle, Analysen, Projektpläne und dergleichen. Sie sind analysierbar, enthalten aber eben nur das explizite Wissen, das „Was“ (Inhalte) und nur sehr beschränkt das „Wie“ (die Art der Kommunikation), die von hoher Bedeutung ist.

Es bedarf also einer anderen Art der Extraktion und Aufbereitung des Wissens. Hier kommen die jüngeren Entwicklungen im maschinellen Lernen und künstlicher Intelligenz gerade recht.

Eric Wei: Elektronische Mentoren

Eric ist ein Tokioter Unternehmer, der unter anderem für die Neueinführung von Amazons Kindle-Produkten in Japan verantwortlich war und den japanischen Ableger des deutschen Lieferdienstes Delivery Hero führte. Mit seinem Unternehmen timelyhero hat er ein System entwickelt, um „digitale Wissens-Zwillinge“ von Mitarbeitern zu erschaffen.

Eric Wei: In Japan nehmen sich Mitarbeiter heute oft nur einen Monat Zeit für die Übergabe, wenn sie ein Unternehmen verlassen. Ein Monat ist viel zu kurz für jemanden, der jahrelang dort gearbeitet hat, um sein Wissen weiterzugeben. Das ist ein Risiko für Unternehmen, denn wenn sie das beste Wissen nicht archivieren können, geht es verloren. Es besteht also die Notwendigkeit, dieses Wissen zu sichern.

Mathias Maul: Wie sicherst du das konkret?

Eric: Sagen wir mal, in einem Vertriebsteam gibt es A-, B- und C-Mitarbeiter, basierend auf ihrer Leistung. Für B- und C-Mitarbeiter ist es sehr schwer, Zugang zum Wissen der A-Mitarbeiter zu bekommen, denn die As sind mit Verkaufen beschäftigt, schließen schneller Deals ab und haben oft keine Zeit, Mentoren für ihre Kollegen zu sein. Also extrahieren wir das Wissen der As, wir finden sozusagen die A-Z-Anleitung oder die Geheimrezepte, mit denen sie auf schwierige Fragen antworten oder Deals abschließen.

Mathias: Kannst du das konkreter machen? Wie kommt ihr an das Wissen?

Eric: Wir führen etwa einstündige Interviews mit ihnen und stellen ihnen um die 100 Fragen zu allen möglichen Situationen – von der Lead-Generierung bis zu spezifischen Kundenanfragen. Die Fragenliste ist je nach Branche verschieden. Wenn wir bemerken, dass einige Fragen weitere Fragen öffnen, fragen wir weiter. Es ist ein iterativer Ansatz, um allmählich in das Denken der Leute einzudringen: „Was hat dich dazu bewogen, das so zu machen? Warum denkst du, ist das richtig?“ und so weiter. So verzweigen wir in Gebiete, an die weder wir noch die Mitarbeiter vorher dachten.

Mathias: Picking brains?

Eric: Ja, genau. Wir fangen mit einer Struktur an, aber kennen natürlich nicht die Struktur des Wissens des Mitarbeiters. Wo wir herauskommen, wissen wir am Anfang also natürlich auch nicht. Die KI hilft dann, Muster zu erkennen. Je länger das Interview, desto mehr Wissen können wir extrahieren. Das wird dann zu einem Unternehmenswert, der nicht verloren geht, selbst wenn Top-Mitarbeiter schnell von einem Wettbewerber abgeworben werden.

Mathias: Erinnert mich ein bisschen an die Arbeit in Coaching und Therapie, da hilft es manchmal auch, tief einzusteigen. Das braucht aber oft viel Vertrauen. Wie steht es denn um die Kooperationsbereitschaft der Mitarbeiter, wenn ihr das in einem Unternehmen durchführt? Ich kann mir vorstellen, dass manche zögern.

Eric: Wir argumentieren, dass es im Interesse aller Mitarbeiter und des Unternehmens ist, wenn alle gut performen, und dass unser Ansatz die Zeit der Top-Mitarbeiter schont. Manche Unternehmen schaffen dann Anreize, zum Beispiel bekommen die interviewten A-Vertriebler einen Bonus, wenn die Kollegen durch das digitale Mentoring bessere Leistungen bringen. Wir behandeln sie wie Wissens-„Influencer“, und sie wissen, dass sie umso mehr profitieren, je zugänglicher ihr Wissen ist, weil so das gesamte Team erfolgreicher wird.

Mathias: Also Zeit gegen Geld? Die A-Mitarbeiter geben weniger Workshops oder Mentorings, haben mehr Zeit für ihre eigentliche Arbeit und werden belohnt? Und wie lange dauert das Ganze?

Eric: Etwa einen Monat, das hängt natürlich von der Teamgröße ab. Wir machen Pausen zwischen den Interviews, denn die Leute denken ja im Hintergrund weiter, Fragen setzen viel in Gang. Wir interviewen wenn möglich auch nicht nur eine Person, sondern schauen nach passenden Stichprobengrößen.

Mathias: Das heißt, ihr repliziert nicht nur eine Person, sondern Teamwissen?

Eric: Ja, wir betrachten auch Cluster von Mitarbeitern. Wenn es hundert Mitarbeiter im Vertriebsteam gibt, gibt es vielleicht zehn A-Mitarbeiter. Die KI analysiert diese zehn Inputs und entwickelt daraus den besten Ansatz, mit möglichst wenig Bias, aber ohne die „Geheimtipps“ einzelner zu entwerten.

Mathias: Welche LLMs und Sprachen nutzt ihr?

Eric: Wir benutzen die LLMs, die gerade die besten Ergebnisse bringen und arbeiten auf Japanisch. Aber sobald das Wissen trainiert ist, kann es auf viele Sprachen angewendet werden. Am Ende bekommen wir eine „Single Source of Truth.“ Und alle drei bis sechs Monate frischen wir das System auf mit neuen Interviews, je nachdem, wie schnell sich das Unternehmen, der Markt oder seine Kunden verändern.

Wunder- und andere Fragen

Erics Interviewmodell scheint chaotisch, doch wie sollte man sonst herausfinden, von dem man nicht weiß, dass man es nicht weiß? Wie im Interview schon gesagt wurde, gibt es Parallelen zu Coaching und Psychotherapie. In einigen Methoden ist es hilfreich, genau dieses implizite Wissen und Beziehungswissen zu erfragen, um zu einer passenden Intervention zu kommen. Über die Zeit wurden verschiedene Fragemodelle entwickelt, die dies ermöglichen.

  • Zirkuläre Fragen aus systemischen Modellen erfassen Beziehungen und Zusammenhänge durch Fragen nach Sichtweisen anderer, zum Beispiel „Was würde dein Kollege X darüber denken?“
  • Sokratische Dialoge bringen implizites Wissen ans Licht, indem der Befragte durch systematisches Fragen zur eigenen Erkenntnis – der Mäeutik (übertragen etwa „Wissensgeburt“) geführt wird.
  • Das Meta-Modell aus dem NLP hilft, konkrete Verhaltensweisen und innere Überzeugungen strukturiert zu hinterfragen, und macht verdeckte Denkstrukturen sichtbar.
  • Lösungsfokussierte Fragetechniken wie die Wunderfrage nach Steve de Shazer lassen Probleme links liegen und rücken Lösungen – oder Wege dorthin – in den Fokus.
  • Man kann auch einfach so oft „Wiesooo?“ oder „Und was dann?“ fragen, bis der Interviewte das letzte Wissen herausgedrückt hat oder – ein deutlicher Indikator für eine ausreichende Menge an Fragen – keine Lust mehr hat. (Als Methode nur dann empfehlenswert, wenn der Interviewer sicher ist, dass es nun wirklich reicht.)

Oft macht es die Mischung aus verschiedenen Modellen. Denn unsere Gehirne sind exzellente Mustererkenner und (sehr vereinfacht gesagt) langweilen sich, wenn Muster sich wiederholen. Überraschungen in den Fragetechniken helfen, die innere Suche nach Antworten auf bisher nie gehörte Fragen abwechslungsreich zu gestalten. Das erhöht den spielerischen Aspekt des Interviews, und das wiederum erhöht die Motivation, am Ball zu bleiben.

Wer keine Berater beauftragen will oder kann, kommt auch mit etwas Experimentierwillen, Spieltrieb und bestehenden Tools wie Gemini oder Claude recht weit. Bei hohen Ansprüchen an Datensicherheit funktionieren sicher auch On-site-Modelle wie Qwen oder Gemma. In der Zeit zwischen dem Schreiben dieser Zeilen und Drucklegung des Hefts kommen sicher 100 weitere Tools auf den Markt. Und selbst wenn die Ergebnisse in den ersten Anläufen nicht so belastbar sind wie erhofft: Man hat miteinander geredet, und allein das ist schon ein Wert für sich, zur Reflexion für die Befragten und zur Inspiration für die Interviewer.

Der Wert des Unsichtbaren

Zurück zur Motivation, die alles bisher in diesem Text Gesagte befördern oder eben vermeiden kann. Die Grundlage für diese Art der Arbeit, so waren sich beide Interviewpartner einig, ist das Anerkennen des Werts von Wissen. Das klingt banal, ist aber in der Praxis alles andere als etabliert. Eine Schnittstelle für Weisheit einzuführen, könnte ein erster Schritt sein. Damit am Karriereende das Wissen bleibt, auch wenn ein Kopf geht.

Die Interviews wurden inhaltserhaltend in Hinblick auf Länge und Verständlichkeit bearbeitet.


Bernd Waterkamp – Als Technischer Redakteur und Führungskraft in Service und Qualität kennt Bernd Waterkamp das Potenzial gelingender Aftersales-Prozesse. https://bweitblick.de

Eric Wei: Der Gründer der Beratungsplattform timelyhero war verantwortlich für die Einführung von Amazons Kindle-Produkten in Japan. Außerdem leitete er dort die Niederlassung von Delivery Hero. https://timelyhero.com