Schluss jetzt! Aufhören leicht(er) gemacht
Erschienen in Praxis Kommunikation 6/2016.
Brrrrrrrt, brrrrt, brt, brrzzZZZt. Während ich zusehe und fühle, wie die Tätowiernadel in meinem Oberarm unterwegs ist, denke ich an die vergangenen Jahre zurück; mit jedem Stich blitzen längst vergessene Szenen auf.
„So. What would you like to let go of? Erzähl einfach … und wir schauen dann, welches Wort es am besten trifft,“
hatte mich Natascha Stellmach zuvor gefragt, und mit der üblichen Überheblichkeit des Therapeuten, der sich gut zu kennen wähnt, glaubte ich, die Antwort zu wissen. Meinen Bericht der letzten Monate mit all den traumatischen Folgen einer „eigentlich“ einvernehmlichen Scheidung quittierte Natascha mit dem Griff zum Thesaurus. „Sehen wir mal, worum es hier wirklich geht,“ sagte sie lächelnd, und nach kurzem Gespräch servierte sie mir ein Wort, das mir durch Mark und Bein ging.
Der Oberarm sollte es sein. Ohne Tinte, damit das Wort, nur durch die Wunde gezeichnet, langsam verschwindet … und die daran gekoppelten Emotionen mitnimmt. Wie lange es dauern würde, bis es - jedenfalls äußerlich - verheilt wäre, wusste ich nicht. Vier, zwei, sechs Wochen?
Brrrrrt, brrrt, brrrautsch!rrrrt.
Illusionäre Sicherheit
„Heute fange ich mit dem Joggen an!“ triumphieren jährlich wohl Hunderttausende Menschen am Neujahrstag, und an den ersten Januarwochenenden sind die Parks voll von flinken, blitzblanken, neuen Laufschuhen - bis sie dann, gegen März, im Keller landen und den Park wieder den abgelaufenen Sohlen derer überlassen, die „schon immer“ laufen. Wer mit einer neuen Gewohnheit beginnt, hört per definitionem mit einer anderen Gewohnheit auf, wer zum Läufer wird, wird zum Nicht-Nichtläufer.
Die Entscheidung, mit dem Aufhören anzufangen, ist nur der erste Schritt; das Ende vom Alten gehört ebenso eingeläutet wie der Beginn des Neuen, denn etwas zu beenden ist ein Wechselspiel von Entscheidungen und Prozessen. Und ob eine alte Gewohnheit wirklich am Ende ist, weiß man erst dann, wenn sie sich eine Zeitlang nicht mehr gemeldet hat. Und selbst dies ist trügerisch: Wie soll ein Säufer wissen, ob er wirklich clean ist? Wenn er es einen Tag, eine Woche, ein Jahrzehnt ohne Alkohol aushält? Oder für den Rest des Lebens? Diese Sicherheit, die wir uns beim Beenden so sehnlich wünschen, ist genauso illusorisch wie die, „ab heute mein Leben lang“ jeden Morgen im Park zu joggen.
Wohl jeder Berater hat schon Klienten erlebt, die etwas beenden wollten oder mussten. Toxische Beziehungen, Jobs, Süchte, Religion, dauernde Streitereien im Team, was auch immer: „Das muss endlich ein Ende haben!“ hörte ich oft genug, sowohl von Klienten als auch von mir selbst. Was genau, also ganz genau jedoch dieses „das“ ist, ist oft schwer zu fassen. Standardbeispiel Prokrastination: Ist es das Herausschieben an sich? Der Testlauf der fünften To-do-Listen-Software? Oder vielleicht die Gläser Whiskey an den Abenden, an denen es schon wieder nicht geklappt hat?
„Naja, Herr Maul, ich will halt nicht mehr so viel rausschieben und endlich in die Aktion kommen.“ - „Ah ja, ist klar. Und was genau muss verschwinden, damit Sie zum aktionistischen Nichtrausschieber werden?“ - „Öhm.“
Hilfreich ist es, den Störer zu benennen oder wenigstens zu beschreiben, der aus dem inneren System verschwinden soll, und sich dabei - Systemiker bitte weghören - zunächst nicht um den weiteren Kontext (Freunde, Kollegen, Familie) zu kümmern. Der erste Schritt zum erfolgreichen Aufhören ist, wie so oft, den Dämon ans Tageslicht zu holen - oder im Zweifel zu zerren, so sehr er auch mit den Armen um sich schlägt. Es muss nicht immer so martialisch sein wie oben beschrieben (wobei es durchaus sehr, sehr hilfreich sein kann), aber eines muss es sein: deutlich und unmissverständlich.
Wenn der Dämon dann rappelt und zappelt, frage man sich, nicht ihn: Will ich’s wirklich, wirklich loswerden? Die ehrlichste Antwort ist oft die, die am wenigsten weiterhilft, denn schließlich hat man das, was nun gehen soll, irgendwann selbst erzeugt und eingelagert. Und, ach ja, ist er überhaupt der Richtige? Oder hat er einen Stellvertreter geschickt? Nicht immer ist das, womit wir aufhören wollen, auch das, womit wir aufhören sollten, und sicher(er) werden wir nur durchs Experiment.
Hart an der Grenze
Spätestens jetzt scheiden sich die Geister, wie man das Ende nun herbeiführt: Reicht es, das Thema an die Oberfläche zu holen und zu hoffen, es erledigt sich von alleine? Tatsächlich tut es das in vielen Fällen, denn durch die an sich paradoxe Intervention des Fokussierens auf das Problem scheinen wir Kräfte zu entwickeln, die es neutralisieren.
Der Streit zwischen dem Lager der vertrauenden Loslasser auf der einen („Vertrau dein Problem dem Universum an!“) und dem der pragmatischen Wegmacher („Na? Naa? Ist das Gefühl noch da?“) auf der anderen ist bei näherer Betrachtung lösbar, wenn man einen Weg findet, den Prozess ziemlich genau auf der Grenze zwischen Bewusstsein und Unbewusstem zu platzieren.
Ob mit einem Bloodline-Tattoo oder Klebezettelchen im Notizbuch oder Kalender-Erinnerungen, deren Frequenz mit der Zeit nachlässt, oder oder … die Möglichkeiten, diesen Prozess zu steuern, sind grenzenlos. Solange der Dämon immer wieder gekitzelt wird, und er wirklich der ist, den man wirklich sucht, wird er irgendwann verblassen.
Und dann, plopp, ist’s weg.
Fünf Wochen später sah mein Arm aus wie zuvor - die „Wortwunde“ war zunächst verblasst, dann verschwunden. Zugegeben: Ich war ein bisschen traurig darüber, schließlich waren wir uns (in dieser Deutlichkeit) doch gerade erst begegnet! Tatsächlich berichtet Natascha, dass Traurigkeit oft eine Begleiterscheinung ist, wenn die Tattoos verschwinden - was nicht wenige Träger überrascht.
Wenn sich mein Dämon(chen) heute wieder meldet, schaue ich kurz auf meinen Arm - manchmal sieht’s so aus, als könnte ich noch einen winzigen Schatten der Wunde erkennen. Und sicher gibt es irgendwo noch einen Rest, der mit dem Aufhören einfach nicht aufhören will. Aber das ist, irgendwie, auch ganz schön beruhigend.