MAULCO.
© Mathias Maul

Do not Rush

Die Anzeigetafel blinkt: U-Bahn fährt ein! Der Mitarbeiter am Bahnsteig schaut auf die Tafel, auf den Zug, seine Uhr, spricht ein paar Wörter, macht eine weit ausholende Geste mit seinem Arm, zeigt mit weiß behandschuhtem Zeigefinger auf die Tafel, nickt und sagt laut Yoshhh… alles OK.

Der Zug hält, einige hundert Menschen steigen aus, danach steigen hunderte neue ein. Keine zwanzig Sekunden nach Einfahrt schließen die Türen, der Mitarbeiter schaut, spricht, zeigt, der Zug fährt weiter. Kein Gedränge, keine Hast, jeder Passagier weiß, was er zu tun hat.

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Im 40. Stock eines Büroturms in Roppongi angekommen, Blick auf Fujisan im Sonnenuntergang, unterhalte ich mich mit einem Bankmanager über Resilienz. Er erzählt, wie er kurz nach der Tsunami-Katastrophe hundert gebrauchte Fahrräder organisierte und mit einem geliehenen Lastwagen in die Region brachte, um den vom Verkehr abgeschnittenen Menschen lebenswichtige Mobilität zu ermöglichen. Er traf einen Mann, der seine Frau und zwei seiner drei Töchter verloren hatte. Als dieser sein Fahrrad erhielt, sagte er: „Vielen Dank, es hilft mir, meine Nachbarn beim Wiederaufbau ihrer Häuser zu unterstützen.“

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Seit über 100 Jahren führen Mitarbeiter der japanischen Bahnen wichtige Arbeitsschritte hochbewusst aus: Schau den Knopf an, drücke ihn, zeige drauf, und sage es laut, wenn Du ihn gedrückt hast – ganz egal ob jemand zuschaut oder zuhört oder nicht. Die Fahrer der Schnellzüge lernen dieses System ebenso wie die Frauen und Männer, die sie reinigen. Die Verspätung eines Shinkansen beträgt im Jahresdurchschnitt 36 Sekunden.

Aufgaben nacheinander statt „gleichzeitig“ auszuführen ist eine Gewohnheit—ebenso wie die, anderen Menschen zu helfen, ohne nach dem Wieso und Weshalb zu fragen.

Diese Gewohnheiten sind nicht etwa ein Teil von uns, sondern wir sind unsere Gewohnheiten. Das macht es so leicht, uns ändern zu wollen, und so unendlich schwierig, es wirklich zu tun. Manche wollen das Große Ganze ändern, ihre Persönlichkeit, ihr Ego; am besten jetzt und sofort. Ab dem ersten Januar wird alles anders. Dieses Mal ganz bestimmt.

Aber unser Großes Ganzes ist träge wie ein Ameisenhaufen; es muss träge sein, damit wir unseren Halt nicht verlieren. Die einzelnen Ameisen? Flink und flexibel. Es ist einfacher, einer Ameise zu sagen „geh mal ein bisschen mehr dort lang,“ als den ganzen Haufen zu verschieben, doch es bedarf Geduld, das Ergebnis abzuwarten. Auch Hast ist eine Gewohnheit, vermutlich die, die uns am meisten daran hindert, unsere Ameisenhaufen zu verändern, zu verbessern, Schritt für Schritt.

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Do not rush – nicht hetzen! Dieser Hinweis steht in Tokyo an Metro-Stationen, Rolltreppen und überall dort, wo Menschen den Trugschluss denken könnten, dass Hast sie schneller ans Ziel bringt. Es wirkt.

Ich wünsche Ihnen ein neues Jahr ohne Hast und Hetze, und auf dass Sie Ihre Ameisen im Zaum halten mögen. Zeigen, sprechen, tun. Die weißen Handschuhe sind optional.