
Social Media: Menschlich bleiben
Erschienen in technische kommunikation 2/2025.
Du stehst an der Bushaltestelle. Schweigend tritt jemand zu dir, drückt dir seine Visitenkarte in die Hand, sagt „Ich möchte Sie gerne zu meinem Netzwerk hinzufügen,“ und verschwindet. Kein Guten Morgen, keine Erklärung, kein Small Talk. Absurd? All-tag in sozialen Netzwerken. Täglich landen solche Anfragen – kann man sie überhaupt „Kontakt“-Anfragen nennen? – in unseren Postfächern. Viele klicken dann gedankenlos auf den Akzeptieren-Knopf und machen weiter wie bisher. Einer mehr im Körbchen, na schön, hier, setz dich zu den Tausend anderen. Was läuft hier eigentlich schief, speziell in den sozialen Medien und allgemein in unserer digitalen Kommunikation? Und wie können wir es wieder geradliniger und nützlicher machen?
Äußerst witzig
In meinen LinkedIn-Trainings zeige ich oft ein Foto eines Zettels als perfektes Beispiel für das, was wir im SocialNetwork-Jargon als „Post“ kennen: Jemand bietet seine Dienste an, verpackt sie in ein persönliches und attraktives Format. Nimmt sich etwas auf die Schippe, macht sich damit nahbar und vertrauenswürdig, und das alles klebt er an einen Laternenpfosten – daher übrigens der Begriff „Post.“

Einige von denen, die daran vorbeilaufen, bleiben stehen und reißen sich eines der Telefonzettelchen ab, andere gehen daran vorbei, scrollen weiter. Wer einen eigenen Angebots-Post hat und keinen freien Platz an der Laterne findet, reißt den Picasso ab und hängt seinen eigenen an. Alle paar Wochen säubert die Stadtreinigung den Pfosten, und irgendwann kommen auch Leute, die den Zettel so sehr liken – Verzeihung: gut finden – dass sie ihn mit anderen teilen, so wie ich ihn hier mit euch teile.
Viele Rituale in Social Networks spiegeln das analoge Leben, begonnen bei der Einladung in eine Gruppe oder Netzwerk über das Teilen oder Weiterempfehlen eines Angebots bis zum Löschen eines Kontakts oder eben dem Abbruch einer Partnerschaft. Schließ.lich heißen soziale Netzwerke „sozial,“ weil sie grundlegend Menschliches abbilden.
Vom Netzwerk zum Medium
Das wird besonders deutlich beim kultur.übergreifenden Vergleich: Es ist auch als Nicht-Chinese leicht für mich, mit meinen chinesischen Studenten über Little Red Book oder Bilibili – die Äqivalente zu Instagram und YouTube – zu sprechen. Denn die Nutzer in allen Ländern sind größtenteils Menschen – auch wenn die Bots ihnen langsam den Rang ablaufen. Das Nutzen von sozialen Netzwerken ist grundlegend nichts anderes als der Umgang mit Menschen im „Meatspace,“ dem analogen Leben. Bis auf einen entscheidenden Unterschied: die Agenda der Netzwerk-Betreiber. Plattformen wie LinkedIn oder Instagram haben natürlich zum Ziel, Einfluss und Geld zu gewinnen, sei es durch Schalten von Anzeigen oder Provisionen durch Produktverkäufe auf der Plattform.1
Das ist im Prinzip nicht verwerflich, wären da nicht die Seiteneffekte. Ungefähr 2015 führten einige soziale Netzwerke algorithmische Feeds ein. Sie berechnen mit zum großen Teil dubiosen Methoden die Vorlieben der User, um auf deren Feeds einige Inhalte zu betonen und andere auszublenden. Statt selbstbestimmt durch die Straßen zu schlendern und an einem Pfosten der Wahl stehen zu bleiben, wandern an uns genau die Informationen vorbei, von denen die Plattform glaubt, dass sie besonders anziehend für uns – und umsatzsteigernd für die Plattform sind.
Soziale Netzwerke sind zu sozialen Medien geworden, und nach dem kulturübergeifend Menschlichen trat der kulturübergreifende Kommerz in den Vordergrund. Das Perfide dabei: Soziale Medien sprechen tief menschliche Bedürfnisse etwa nach Zugehörigkeit, Schönheit oder auch Selbstdarstellung an. Damit binden sie die Aufmerksamkeit der User so, dass sie möglichst lange auf der Plattform bleiben, fleißig liken, teilen und schimpfen – Polarisierung wirkt leider sehr anziehend – und dabei Anzeigen anschauen und anklicken, was Umsatz bringt. Der Feed jedes Users wird zum eigenen kleinen Universum, das die eigenen Ansichten verstärkt, kritisches Denken schwächt, den User an die Plattform bindet, dem Baumarkt mehr Leitern verkauft und Populismus befördert.2
Aus alledem leitet sich dieses erste Prinzip ab:
Prinzip 1: „Der Algorithmus“ weckt und bedient menschliche Bedürfnisse zum Nutzen des Betreibers eines kommerziellen Social Networks.
Natürlich ist der Begriff „der Algorithmus“ übervereinfacht. Es gibt nicht nur eine einzige Berechnungsvorschrift, sondern ein sehr komplexes und sich dauernd änderndes System aus Faktoren, die bestimmen, wann welcher Post für wen sichtbar wird. Manchmal höre ich von Kunden, man müsse es doch „dem Algorithmus“ recht machen. Ihn verstehen, durchschauen, sogar austricksen, damit die eigenen Posts auf jeden Fall im Feed der Zielgruppe landen. Das muss schon bei einem oberflächlichen Blick auf die Komplexität scheitern, außer man vertraut auf die Versprechen der Quacksalber, die Produkte wie „die 10 besten Tipps, um den LinkedIn-Algorithmus zu schlagen“ verkaufen und diese 10 Tipps immer wieder ändern. Ein zeitloser Tipp (der auch für andere als die sozialen Medien gilt) ist also: Sei dir der Agenda des Mediums bewusst, in dem du dich bewegst.
Sinn-volle Beiträge
Wieso bist du eigentlich in diesem Medium, sagen wir mal: LinkedIn, unterwegs? Weil auch „die anderen“ alle da sind? Weil es die Geschäftsführung angeordnet hat? Willst du ein bestimmtes Ziel erreichen, ein Produkt verkaufen, Sichtbarkeit erhöhen, neue Kunden treffen? Oder zum Experimentieren, aus Langeweile oder einfach, weil es dir Spaß macht?
Es ist hilfreich, diese Frage zu beantworten, bevor du dir irgendwelche Gedanken um einen Post machst oder darum, jemanden anzusprechen, einer Gruppe beizutreten oder einen Like-Daumen zu klicken. Meist ist es natürlich eine Mischung: Produkt verkaufen und experimentieren, oder weil es zu deinem Job gehört und Spaß macht. Wie auch immer deine Gründe sind – mit dem Wissen um das Warum ist die Frage nach dem Wie viel leichter zu beantworten. Und auch hierfür gibt es ein Prinzip, das unabhängig von der heutigen Ausprägung diverser sozialer Medien gilt:
Prinzip 2: Im anfassbaren wie im virtuellen Leben hilft es, Gutes zu tun. Die Content-Strategie für LinkedIn lässt sich oft zusammenfassen in: „Helft anderen, ihren Job besser zu machen, und gleicht es mit euren Zielen ab.“
Das gilt für Unternehmen genau wie für euch als Individuen, für das Erstellen von Beiträgen genau wie für Likes, Kommentare oder das Teilen von Posts. Natürlich hat jedes Netzwerk seine eigenen Spielarten, Text-Posts und Karusselle und video-augmented accessible Weißnichtwas. Wenn ihr eine Betriebsanleitung schreibt, denkt ihr zuerst an diejenigen, die sie nutzen sollen, nicht wahr? Nicht viel anders ist es hier: Denkt bei dem, was ihr auf sozialen Medien machen wollt, immer zuerst an diejenigen, die von dem profitieren sollen, was ihr hinausposaunt. Wie verpackt ihr es so, dass es ihnen am besten hilft? Die Parallele zur Technischen Redaktion ist, deutlich zu werden: Helft den Nutzern, Inhalte so zu verstehen und in Folge so zu handeln, wie es ihnen am meisten nützt.
Wenn ihr das Wieso wisst, könnt ihr euch um die Form kümmern und um Fragen wie „Soll ich jetzt ein Video posten oder einen Text? Wie schreibe ich den denn am besten? Und was machen wir, wenn jemand kommentiert?“ Diese beantwortet ihr am besten so: Stellt euch vor, kurz vor dem Klick auf den „Absenden“-Buttons treten die künftigen Leser aus eurem Bildschirm heraus, stehen als kleiner Pulk auf eurem Schreibtisch. Wie, glaubt ihr, reagieren sie auf das, was ihr schreiben wollt? Schaut auf die hochgezogenen Augenbrauen oder das breite Grinsen, die Aufregung, die Fragezeichen auf der Stirn. Um es leichter zu machen, nehmt euch ein paar Leute als Beispiel, die ihr schon persönlich kennt, und bei besonders wichtigen Posts schickt diesen vorher einen Entwurf. Denn manchmal ist die Selbstwahrnehmung ein entscheidendes Stückchen von der Fremdwahrnehmung entfernt.
Schamlos drauf los
Natürlich ist das öffentliche Anheften eurer Infos am Laternen-Feed nicht notwendig, um mit sozialen Netzwerken eure Ziele zu erreichen. Plattformen wie LinkedIn lassen sich hervorragend dazu nutzen, in direkten Kontakt mit Menschen zu treten. Jemand hat deinen Beitrag kommentiert? Ein perfekter An-lass für eine direkte, private Nachricht.
Auch die Funktion der „gemeinsamen Kontakte“ (so sie angeschaltet ist) ist hilfreich. Du willst Paul kennenlernen? Deine Kollegin Petra kennt Paul? Prima: Hallo Petra, stell mich doch mal Paul vor, weil XYZ. Fertig. Zurückhaltung? Scham? Die ist hier fehl am Platz. Im LinkedIn-Workshop zeige ich oft ein Bild vom Hamburger Jungfernstieg, der so heißt, weil dort früher die Töchter der Gesellschaft ausgeführt wurden, damit die jungen Herren um sie werben konnten. Alle, die sich bei LinkedIn anmelden, wissen, worum es geht – ähnlich wie beim Jungfernstieg oder den modernen Versionen wie Tinder wäre Zurückhaltung angesagt, wenn es um etwas anderes ginge als das, was die Plattform repräsentiert.
Dabei hilft es, sich dieses Prinzips zu bedienen, das leicht klingt, aber – schau selbst nach – nur selten bedient wird.
Prinzip 3: Social Media hat hauptsächlich mit Menschen zu tun – deswegen heißt es „sozial.“ Redet mit den Menschen so, wie ihr es tätet, stünden sie euch gegenüber.
Probier’s aus. Schreibe deinen nächsten Post (oder persönliche Nachricht) so, wie „man es tun sollte,“ und dann noch mal so, wie du es tun würdest, gäbe es keine vermeintlichen Sonderregeln. Denke dir die technischen Abstraktionen weg, die zwischen dir und denen liegen, die du ansprichst, und du wirst bemerken, dass deine Posts, Nachrichten und Kommentare mehr Wirkung bringen.
Filterblasen
„Wie, den kennst du nicht? Den kennt doch jeder!“ sagte eine Kollegin letztens zu mir, als sie mir von einem Influencer erzählte. Nie hatte ich den Namen gehört – und vergaß ihn schnell wieder, nachdem sie mir mehr von ihm erzählt und gezeigt hatte. Zum Spaß verglichen wir unsere Feeds, und natürlich waren sie völlig unterschiedlich.
Prinzip 4: Die „Bubbles“ einzelner Nutzer unterscheiden sich beträchtlich voneinander. Trefft keine Vorannahmen, wer was wann sieht – ihr werdet es nie herausfinden.
Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht an die Zeiten, in denen man die Plattensammlung oder das Bücherregal des Gastgebers anschaute und sich freute, etwas Bekanntes zu finden in all dem Fremden. Wie wahrscheinlich war es, in einem fremden CD-Regal dieselben Inhalte zu finden? Ähnlich ist es mit den Feeds: Sie spiegeln (siehe auch Prinzip 1!) einen Teil der Persönlichkeit des Users wider. Schaut bei der Kommunikation auf die – womöglich kleinen – Gemeinsamkeiten statt auf das, was nicht ähnlich ist.
Kurz zurück zur Stadtreinigung, die den vorne gezeigten Picasso vermutlich schon lange abgerissen hat: Wenn euer Feed euch nervt, räumt regelmäßig und gezielt auf. Haltet eure Bubble sauber. Die meisten sozialen Medien haben Funktionen zum Ausblenden und Blockieren von Usern, und niemand schreibt euch vor, dass ihr mit denen in Kontakt sein müsst, mit denen ihr auch im Meatspace nicht kommunizieren wolltet. Nebenbei macht ihr so auch etwas für eure mentale Gesundheit und findet, wenn nicht sowieso schon vorhanden, neben dem geschäftlichen Erfolg vielleicht Spaß in dieser durchaus bizarren Welt.
Reading the Bushaltestelle
Nach der Bushaltestellen-Geschichte aus der Einleitung gebe ich meinen Studenten ein weiteres Bild mit: Stellt euch vor, ihr seid auf einer großen Party eingeladen, auf der ihr nur den Gastgeber kennt. Mit einem Glas in der Hand kommt ihr in einen großen Raum mit einer Menge von Leuten, manche allein, manche in Grüppchen. Würdet ihr zu jedem Einzelnen gehen und sagen „Hallo, ich bin Soundso, willst du mein Kontakt werden?“ Natürlich nicht. Vermutlich schaut ihr euch an, wie die Leute sich bewegen und was sie tun, geht durch die Grüppchen, hört ein bisschen zu, lächelt einige an und geht anderen aus dem Weg, und irgendwann stellt ihr euch dort, wo es passt, dazu und kommt ins Gespräch. Einige Marketer nennen das „reading the room,“ man kann es auch einfach „kommunizieren“ nennen.
Und so klappt’s auch online.—Wenigstens so lange noch, bis die Netze komplett von Bots übernommen werden, doch das ist vielleicht eine Geschichte fürs nächste Mal.